krakau
25.10.05
  Die Reise der Pinguine

Wolfgang kam und brachte mir verschiedene seltsame Dinge mit. Aus Berlin. Stapel alter Zeitungen. Aus einer anderen Welt.

Dann fuhren wir Straßenbahn. Es zog uns ins Kino. Wir wollten den Film „Der Marsch der Pinguinie“ sehen. Seit einiger Zeit bin ich Pinguinverrückt. Und finde, dass wir viel zu wenig an Pinguine denken, über sie sprechen. Sie sind uns gleichgültig. Die Welt funktioniert bestens ohne sie. Zum Beispiel gibt es kaum Kinderspielzeug in Form von Pinguinen. Es ist mir bis heute nicht gelungen, einen Quietschepinguin aus Plastik für die Badewanne zu kaufen, der einen typischen Piguinlaut von sich gibt, wenn das Kind ihn in seiner kleinen Faust einschließt. Es gibt nur gelbe Quietscheentchen. Und die Kinder lernen in ihren ersten Badetagen, dass in der Badewanne nur eine Waltdisneyente schwimmen kann. Ich wünsche mir einen Badewannenpinguin. Obwohl ich weder ein Kind bin noch eines habe. Noch zur Zeit in der Villa in einer Badewanne baden kann. Aber ich habe eine Engelin mit Gießkanne. Pinguine sind fluguntaugliche Vögel. Sie rudern mit den Flügeln im antarktischen Meer und steuern mit den kurzen Beinen und den Schwimmflossen zwischen den Zehen. Meine Krakauer Engelin kann auch nicht fliegen. Sie hängt hier über mir, unter dem Dach, und scheint ganz zufrieden zu sein. Sie schreitet eher durch die Luft. Mit entschiedenen Schritten. Beinen. Marschiert sie. In ihren Filzstiefeln. Als dass sie schwebt. Auf Flügeln.

Wir fuhren also mit der Straßenbahn. Mit der Nummer 1. Im Rucksack saß mein Pinguin. Mein kleiner weicher Stoffpinguin, den ich vor einigen Jahren geschenkt bekam. In London. Im Naturkundemuseum. An der Themse. Von eben jenem Wolfgang. Mit dem alles begann. Und jetzt fahren wir zusammen ins Kino. In eine unwirtliche Welt. An einen Unort. In ein riesiges Einkaufszentrum. Mit Geschäften, die überall anzutreffen sind. Mit Fressbuden, die überall anzutreffen sind. Mit Kinos, die überall anzutreffen sind. Mit Filmen, Waren, Bigmacs, Imax’s, None’s ... Ein französischer Film, synchronisierte Version. Also polnisch. Wolfgang ist begeistert. Die Sprache wird ihn nicht berühren. Er las in der Zeitung, während er nach Krakau flog (Wolfgang kann im Gegensatz zu den Pinguinen fliegen), dass die Bilder schön sind und der Text dumm. Dass die Wörter eine rührselige Hollywoodstory erzählen wollen.

Ein leerer Saal. Gut gekühlt. Am Anfang sitzen nur wir drei drin. Dann kommt noch eine Familie mit einem richtigen Kind. Und tatsächlich – die Wörter, die synchronisierten Texte unter den Bildern, versuchen eine menschliche Liebesgeschichte zu bilden. Mit der langen, auszehrenden Reise am Anfang, einem zweihundertkilometerlangen Marsch zum Brutplatz, mit anschließendem Liebestanz, Liebesgesang, Liebesberührung, Liebeserfüllung, dem Versprechen ewiger Treue, mit dem Warten auf das Ei, mit der rituellen Übergabe des Eis an den Vater, der es ausbrütet, austrägt, in der unteren Bauchfalte. Und schon müssen sich die Liebenden trennen. Die Mutter watschelt zurück zum Eismeer, denn sie ist hungrig und erschöpft. Sie kehrt nach zwei Monaten zurück, um das Küken zu füttern und den ausgehungerten Vater abzulösen. Angeblich – so sagen es die Wörter, nicht die Bilder – erkennen die Mütter in der Ansammlung von einigen Tausend Pinguinen ohne Probleme den richtigen Partner und das eigene Küken, das während ihrer Abwesenheit aus dem Ei geschlüpft ist. Christliche Tugenden in der Antarktis. Und so weiter. Der Vater wankt von dannen, denn nun braucht er dringend Nahrung. Die Weisheit der Pinguinküken gipfelt in der Feststellung, dass die Welt aus einer schwarzen Seite und einer weißen Seite besteht. Die schwarze Seite bedeutet Abschied, Trennung, Schmerz. Und die weiße Seite bedeutet Rückkehr. Vereinigung. Im Kreis der Familie.
Dies ist eine poetische Sicht der Welt. Und die Poesie ist menschlichen Geschlechts. So wie der Kitsch. Oder die Romantik. Ich bin mir nicht sicher, ob auf dem antarktischen Packeis Zeit für Poesie ist. Oder Platz für einen malerischen Sonnenuntergang. Dort geht es eher um Leben oder Tod. Ausschließlich. Um Hunger und Futter. Um nichts anderes. Um Wärme und Kälte. Um Widerstandsfähigkeit. Wie viel Zeit verbringen Kaiserpinguine in ihrem Leben mit untätigem Warten. Auch Langeweile ist menschlichen Geschlechts.

Wir hingegen kehren in die Normalität zurück. In der Nacht. Mit unserem kleinen weichen Pinguin im Rucksack.
 
Comments:
Würde mich über ein Foto von einer uralten Tram in den engen Straßen von Krakau freuen. Am besten mit typischer Ecke oder Kirchenfassade im Hintergrund. Bald gibt es die alten Trams nicht mehr !!!
Danke ROLF
 
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