krakau
30.3.06
  Abschied
In drei Stunden verlasse ich Krakau-Balice – mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Mit einem hinkenden und einem tanzenden Bein. Mit einem schweren Koffer. Und einem leichten Kopf.

In vier Stunden lande ich in Berlin-Schönefeld – mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Mit einem tanzenden und einem hinkenden Bein. Mit einem leichten Koffer. Und einem schweren Kopf.

Ich habe im letzten halben Jahr in Krakau wie ein Antonymwörterbuch gelebt. Der Herbst war sehr bunt, der Winter sehr kalt, meine Gedanken sehr klar, die Sprachen scharf getrennt, die Träume aufgehoben. Im Himmel. Über dem Dach.

Ich bedanke mich bei allen, die mir Gesellschaft geleistet haben!

Der Krakau-blog wird Ende Monat abgeschlossen (bleibt aber vorläufig weiterhin online).

Ich freue mich auf den Frühling!
 
27.3.06
  Das Antonymwörterbuch
Das Wochenende verbrachte ich in Kwiatonowice. Verabschiedete mich von den Unteren Beskiden. Weißüberzuckert das schöne Land. Und von Magda und Kasper. Fleißig, wie immer. Vorläufig, versteht sich. Nichts blühte. Der April mit seinen Flunkerblumen ist noch weit. Wie der dünne Schnee auf den Nordhängen. Der Regen hört nun nicht mehr auf. Bis alles Weiß weggespült ist.

Kasper und ich arbeiteten. Überprüften den Index für das Antonymwörterbuch. Von „agogika” bis „quasi”. Mehr Buchstaben gab uns die Zeit nicht. Geizig, wie sie ist. Wir überprüften nicht die Wörter. Deshalb habe ich keine Ahnung, wie das Antonym von „agogika” ist, oder von „quasi”. Wir überprüften nur die hinter den Wörtern angegebenen Nummern. Die Zahlen der Seiten, auf denen das betreffende Wort auftaucht. Mein Hörverständnis Polnisch ist ausgezeichnet. Kasper las die Zahlen (insgesamt ungefähr 14 639), denn ihm kamen sie besser und eindeutig schneller von den Lippen, während ich auf Richtigkeit und Druck (gerade, fett, kursiv) achtete. Und das alles im Tempo eines japanischen Shinkansen. Wir rasten mindestens dreimal über die Inseln.

Der Buchstaben „ó” hatte nur zwei Einträge: „ów” und „ówczesny”. Am meisten Wörter gab es unter „n”. Alle Verneinungen von was auch immer fangen an mit „nie-“ und hockten sich sofort in meinem Nacken fest. Plötzlich saß mir die ganze polnische Sprache mit all ihren eigensinnigen Zahlen (175 sto siedemdziesiąt pięć, 313 trzysta trzynaście, 777 siedemset siedemdziesiąt siedem ...) im Nacken und versteifte meine Wirbelsäule bis zum Steißbein hinunter. Für immer und ewig setzten sich Wörter im Mark fest wie „prowodyr”. Oder „orli (nos)” – sic! Unter „ć” fanden sich auch nur drei Ausdrücke: „ćma“, „ćpać“ und „ćwierćinteligent“. Ich frage mich, wie das Antonym von „ćwierćinteligent” (der Viertelintelligenzler) lauten könnte. Halbintelligenzler oder Achtelintelligenzler? Leider weiß ich gar nichts von Fußnoten oder Verweisen. In diesem Wörterbuch.

Am Abend erfreute Magda meinen ganz versteiften Rücken und meine ganz versteifte Seitenzahlenseele mit dem Zitat des Tages: „Jesteśmy żadnym społeczeństwem. Jesteśmy wielkim sztandarem narodowym.” [Wir sind keine Gesellschaft. Wir sind eine große Nationalfahne] (Cyprian Norwid in einem Brief an Michalina Zaleska, aus dem Hause der Dziekońskis, vom 14. November 1862). Leichter verdaulich ist die volkstümliche Zitierweise: „Die Polen sind ein wunderbares Volk, aber eine absolut wertlose Gesellschaft.”

Ach, wie herrlich sind doch Antonyme.
 
25.3.06
  Blumenland
Ich verreise. Ins Land der Blumen. Nach Kwiatonowice. Ins Bögli-Haus. Angeblich hat das Dorf den Namen von der Königin Jadwiga bekommen. Der Blumen wegen ["kwiat" - wir erinnern uns, an den April und die Flunkerblume]. Die Königin Jadwiga spielt keine geringe Rolle in meinem Krakauer Leben. Die Strasse, die nach ihr benannt ist, führt mich jeden Tag in die Welt hinaus.
Wer mitkommen will, kann das über www.kwiatonowice.za.pl tun.
 
24.3.06
  Der zweite Koffer
Wolfgang ist bereits wieder verschwunden. So wie fast alles. Aus meinem Zimmer unter dem Dach. Er hat den zweiten Koffer mitgenommen. Randvoll. Und ihn dem Bauch einer orangefarbenen easyjet-Maschine übergeben.

Als Zusatzgepäck nahm er die Traurigkeit mit. In einem sehr unrentablen. Unfassbaren. Und ungezähmten. Metallkoffer. Mit Lebendgewicht. Schwiegermutter ist ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ihr Herz kann nicht mehr.

Meinem Großvater in Amerika geht es auch schlecht. Er ist mehrmals gestürzt. Hat sich Rippen gebrochen. Den Kopf aufgeschlagen.
Sein Puls hämmert ungestüm in den Schläfen.

Da hilft keine Widerrede. Übergewicht muss bezahlt werden. Alles muss bezahlt werden. Ein überfüllter Removakoffer genauso wie das Leben auf halben Touren. Wolfgangs Mutter, meine Schwiegermutter ist eine sogenannte „Trümmerfrau“. Sie gehört zu der Generation von Frauen, die nach dem Krieg zerbombte Städte von Trümmern leer räumten. Im konkreten wie im übertragenen Sinn. Sie gehört zu der Generation von Frauen, die immer irgendwie zurechtkommen mussten. Die nie ihre Kräfte schonten. Nie ausruhten. Wolfgangs Mutter kann nicht sagen, dass sie sich schlecht fühlt. Immer heißt es: „Das wird schon wieder!“ So war das vor fünf Jahren. Als sie den ersten Infarkt hatte. Und fand, das würde schon wieder. Ein Aspirin schluckte und sich hinlegte. Am nächsten Tag fuhr sie in einem überfüllten BVG-Bus zum Arzt. Immerhin. Der schickte sie sofort mit der Feuerwehr ins Krankenhaus. Auf die Intensivstation.
Es war nicht ganz zu spät. Aber ihr halbes Herz pumpt seither nicht mehr.
Und jetzt ist die andere Hälfte müde.
 
23.3.06
  Der dritte Tag, wie bei der Schneiderin
Gestern kam Wolfgang. Heute hörte es auf zu schneien. Aber der thermische Frühling ist noch immer nicht da.

Wir fuhren an die Priester-Turek-Strasse. Zur dritten Anprobe. Bei meiner Schneiderin. Sie näht mir vier oder fünf Teile. Zum Anziehen. Ein Kleid. Einen Rock. Ein Oberteil. Ich weiß nicht, was noch. Andauernd kommen mir Wörter abhanden. Aus einem Stoffrest soll nun noch ein Schal genäht werden. Andauernd muss etwas anprobiert werden. Die rechte Seite liegt gut. Die linke schlecht. Seltsam, dass meine Brüste so ungleich sind. Die Zeit nimmt ab. Wie der Vorrat an Naturseide. Bei Konwicki las ich eine Anekdote über den Schneider von Władysław Gomułka. Die Zensur strich ihm damals die Preise. Den einen Preis (den nationalen, in polnischer Währung) sowie den anderen Preis (den internationalen, in der Währung der Geschwätzigkeit, die überall auf der Welt für Nachlass sorgt).

Ich zitiere die zensierte Version: „Die Anzüge ließ sich Gomułka von einem gewissen Schneider anfertigen, der für seine Arbeit 700 zł verlangte, obwohl andere in seinem Atelier mehr bezahlen mussten.” (Kalendarz i klepsydra, Ausgabe 1982)

Ein ordentlicher Satz. Makellos. Wie die Schweizer Küche.

Und hier die unzensierte Version: „Die Anzüge ließ sich Gomułka von einem gewissen Schneider anfertigen, der für seine Arbeit 700 zł verlangte, obwohl andere in seinem Atelier ohne Widerrede 2400 zl bezahlen mussten.” (Kalendarz i klepsydra, Ausgabe 2005)

Ein Satz mit Schuss. Und konkreten Zahlen. Wie die georgische Küche.

So wurde das damals zugeschnitten. Heute gibt es scharf geschliffene Schneiderinnenscheren. Und eine Strasse, die nach Priester Wincenty Turek benannt ist.
 
21.3.06
  Flunkerblume
Gestern Abend, genau um 19:27 Uhr begann in Polen der astronomische Frühling. In den Wettermeldungen heißt es, dass wir auf den sogenannten thermischen Frühling noch etwas warten müssen. Dann warten wir also.

Heute um 10:00 hatte ich meine letzte Polnischstunde. Ich lernte, dass im sechzehnten Jahrhundert der Monat April im polnischen „łżykwiat” hieß [von „łży“ zu „łgać: łżę, łżesz, łże …“ = lügen: ich lüge, du lügst, er lügt … + „kwiat“ = Blume; also Schwindelblume, Lügenblume, Flunkerblume oder Pseudoblume]. Wie schön! Heute heißt der April „kwiecień” [von „kwiat“ = ganz einfach Blume, ohne flunkern, schwindeln, lügen, vorspielen usw.]. Ich frage mich, wie es kommt, dass der Name des Monats geändert wurde. Und was er ursprünglich bedeutete. In der „Sprache der altertümlichen Polen“ (Zitat aus dem Wörterbuch der polnischen Sprache des 16. Jh.).

Angeblich setzten die Klimatologen schon längst Kriterien fest für den Thermischen Frühling. So wie es bestimmt Kriterien dafür gibt, in welchem Moment atmosphärische Niederschläge von Regen zu Schnee übergehen. In welchem Moment wir nicht mehr im normalen Regen stehen, sondern im radioaktiven. Um nur ein Beispiel zu nennen. Wir wissen nicht, ob nicht in naher oder ferner Zukunft Regenschirme überhaupt aufhören, irgendeine Rolle in unserem Leben zu spielen. Aber bleiben wir beim Hier und Jetzt. Noch fällt Schnee. Jedenfalls bedeckt eine bereits ziemlich feste weiße Decke meine Nachtfenster. Meine schiefen Fenster im schrägen Ziegeldach, die mir an klaren Tagen Einsicht in den Himmel gewähren. Morgen frage ich die Vorsehung, was den Schnee von Regen unterscheidet. Der sogenannte thermische Frühling ist dann gekommen, wenn während mindestens drei Tagen die durchschnittliche Tagestemperatur zwischen 5 und 10 Grad Celsius liegt. Warten wir ihn also ab.

Monatsnamen lassen sich schließlich nicht einfach so ablegen. Monatsnamen sind keine Winterstiefel oder wattierte Jacken. Die wir eines schönen Tages abstreifen und für den Rest des Jahres in den Schrank hängen oder stellen. Wann und warum entstand aus der geheimnisvollen „Flunkerblume“ [„łżykwiat”] das banale „Blumenmeer“ [„kwiecień”]? Eine Frage an das etymologische Wörterbuch. Unter meinem Dach gibt es weder Blumen noch Bücher.

Ein gewisser Herr Agrometeorologe aus Bydgoszcz fand heraus, dass Blumen Temperaturschwankungen sehr schlecht ertragen. Ich ertrage Stimmungsschwanken schlecht. Denn im Fall von Temperaturschwankungen kenne ich einfach Lösungen. Ziehe ich Wollstrumpfhosen an. Und mir wird warm ums Herz. Blumen kennen keine Kleiderschränke. Sie leiden, wenn nachts und am frühen Morgen die Temperatur unter Null sinkt, tagsüber aber in der bleiernen Sonne stark ansteigt. Dies hat angeblich zur Folge dass „tagsüber die Lebensaktivitäten der Pflanzen geweckt werden, die Nacht diese Prozesse aber wieder zurückdrängt.“ Die Blumen befinden sich also im Moment in einem Antievolutionsstadium. Mein Baum hat schon seit längerer Zeit Knospen. Feuchte. Und leidenschaftlich ungeduldige.

Und wir? Wir warten mit Handschuhen. An der Bushaltestelle. Auf den thermischen Frühling.
 
19.3.06
  Sonntag, Stelldichein mit Sekretärin
Meine an sich unsichtbare Sekretärin besuchte mich heute in Krakau. Und sofort trat die Sonne am Himmel aus den Wolken.

Meine an sich abwesende Sekretärin weiß alles über mich. Sie weiß, dass etwas in meinem Kopf arbeitet. So wie um acht Uhr morgens etwas in meinem Laptop arbeitet. Wenn sich AntiVir einschaltet. Und die ganze Festplatte absucht. Ohne dass ich zu wissen brauche, womit und zu welchem Zweck. Es arbeitet. Hart. Während einer knappen Viertelstunde. Und stört meine Fingerspitzen in äußerst geringem Masse. Die Programme reagieren etwas langsamer. Aber es wird gearbeitet. Hier und dort. Im Vordergrund. Im Hintergrund. Im vierten Grund. Und im Siebten Himmel. Irgendwo, in einer virtuellen Arbeitsstube. Das AntiVir aktualisiert sich sogar selbst. Im neunten Feld. In der fünfhundertneunten Zelle ...

Ja. In meinem Kopf arbeitet es unaufhörlich. Ohne dass ich weiß, was, womit und zu welchem Zweck. Nur meine Sekretärin weiß. Alles. Über mich und meinen Kopf. Ich kann also ruhig schlafen.

Ein halbes Jahr lang habe ich fast gar nicht geträumt. Ich schlief in Krakau. Im Zimmer mit der Nummer 22. Unter dem Dach des Łaski-Hauses. Nie träumte ich. Ich sah keine bunten Landschaften. Verweilte auf keiner menschenleeren Insel. Focht keine Streitigkeiten mit der Schweizer Familie aus. Nein. Nichts. Nichts störte. Ich schlief. Einen flachen Schlaf. Einen unaufgeregten Schlaf. Geradeaus. Wie die Fahrt mit dem Berlin-Warschau-Express. Unspektakulär. Wie der Märkische Sand. Es störte nichts. Weder die Alpen über Splügen. Noch der Atlantik vor Madeira. Die Nacht in Krakau ist stocktaub. Aber seit die Pinguine abgereist sind, finde ich keine Ruhe mehr. Kann ich mit niemandem mehr schlafen. Ich habe ein Doppelbett. Ich habe sogar zwei Doppelbetten. Frau Polka und Herr Tango krochen meist unter die eine Decke. Und ich unter die andere. Jetzt schlafen sie im Zelt unter dem Bergahorn. In Brandenburg. Und atmen regelmäßig frische Waldluft. Mich wecken im Morgengrauen Tränen. In der Früh dringen aufbrausende Abschiedsträume in meinen Schlaf. Intensive Startbahnsituationen. Internetverbindungen. Der Widerhall von Wolfgangs Atem über skype. In der Nacht setze ich den Kopfhörer auf. Und die erbosten Wellen des Indischen Ozeans schlagen an meine grauen Zellen. Meeresbrandung im Hirn. Ich hasse Abhöranlagen. Deshalb benütze ich in Polen das Mobiltelefon von Dorota. Ich schlafe und es klingelt. Es klingelt und ich schlafe. Mit offenen Ohren. Über denen das Head-set liegt. Mit schlaftrunkenen Fingerspitzen. Taste ich die Liste der Verbindungen auf dem kleinen Bildschirm ab. Und nehme an, dass ich die Nummer von Martin wähle. Egal, von welchem. Es ist kein einziger mehr da. Nacht. Stocktaub. Martins Stimme rauscht augenblicklich in meinem Kopf. Wie Fruchtwein. Die Stirn platzt. Von der Arbeit. In Grund und Boden. Martin begrüßt mich überschwänglich. Er kann nicht wissen, wer ich bin. Und schon fällt die Dämmerung ein. Ein Schweigen wie im Grab. Eine Stille wie im Cenotaf von Hiroshima. Ich sehe kein einziges Wort mehr. Die Sonne geht um 5:42 auf. Ich breche in Weinen aus. Schüttelfrost. Schulterzucken. Und ich wache auf. Und ich wundere mich. Ob das ein Traum war. Oder das Echo aus der Küche.

Meine immer diskrete Sekretärin wacht über meine ungezügelten Wörter. Manchmal setze ich sie zu Sätzen zusammen, die niemand verstehen kann. Nirgends. Niemals. Bis ans Ende der Welt. Nicht. Nur sie, meine einzige Sekretärin, versteht. Und ordnet. Und beruhigt. Im Kopf arbeitet immer etwas. Irgendein Programm wählt sich immer ein. Und ruft. Selbständig. Gedanken hervor. Bei Konwicki heißt so ein Tag „Montag, Stelldichein mit Kater Iwan“. Bei mir ist alles anders.

Meine Sekretärin hat Tag und Nacht Dienst. Oft raube ich ihr den Schlaf. Mit meinen Wörtern. Sie kam heute nach Krakau. Und sofort trat die Sonne aus den Wolken. Am Himmel.
 
16.3.06
  Die Reise meiner Pinguine
Meine Pinguine, Frau Polka und Herr Tango, sind heute mit Hildegard in einer orangenfarbenen easyjet-Maschine nach Berlin geflogen.

Dies ist natürlich ein Feiertag mit Tränen in den Augen. Der Abschied verlief unprätentiös. Polka und Tango rutschten tapfer durch die Durchleuchtungsanlage für Handgepäck. Polka und Tango sind kein Handgepäck. Polka und Tango sind ordentliche Fluggäste. Durchleuchtet müssen sie trotzdem werden, wie jeder andere Passagier mit Übergewicht. Denn die dicken Bäuche könnten mit Rauschgift oder Sprengstoff gefüllt sein. Polka und Tango sprangen auf der anderen Seite behende vom schwarzen Band, ehe noch ein Vertreter des Bodenpersonals sie packen und ausfragen konnte. Was sie denn zum Frühstück zu sich genommen hätten. Was so fest unter ihren Flügeln klemmte. Von wem Polka die Korallenkette am Hals geschenkt bekommen habe. Und so weiter. Und so fort. Sie warteten stumm in der Ecke auf Hildegard, welche Schuhe, Gürtel und Schal ausziehen musste. Ganz zu schweigen von Mütze, Tasche und Schafpelz. Die Ohrenklappenwintermütze aus Schafwolle ist auch kein Handgepäck. Trotzdem muss sie durch den Schlund der alles von innen sehen wollenden Apparatur.

Ich wartete, bis sie alle mit ihren Handschuhen auf der anderen Seite angelangt waren. Und drehte mich dann um. Natürlich mit Tränen in den Augen. Ich habe keinen Zutritt zu jener anderen, durchsichtigen und absolut sicheren Seite. Ich besitze weder keinen Bordingpass. Noch einen Reisepass. Ich bin keine Passagierin. Nur eine Person, die vom Abschied lebt. Und sich rechtzeitig umdreht. Ich bin kein Gepäckstück. Gehöre weder ins Handgepäckfach. Noch in den Frachtraum. Ich bin kein Fäustlingshandschuh. Am Arm. Noch ein Lederrucksack. Am Rücken. Noch eine unentbehrliche Laptoptastatur. Unter den Fingerspitzen. Ich drehte mich um ohne ein Wort des Abschieds. Niemand hätte meine stiefmütterlichen Sätze durchleuchten können. Keine Apparatur. Keine Maschinerie. Kein auf Messer, Gabeln, Schere geschulter Securitycheck. Meine Worte bleiben im Hals stecken. Zwischen der Handgepäckskontrolle und der Passkontrolle am internationalen Johannes Paul II Flughafen in Balice wirkt das Vakuum.

Ich kehrte mit dem Bus 192 in mein leeres Zimmer unter dem Dach zurück. Der Bus stank wie immer. Nach Mist. Landluft. Am Abend landete eine email auf meinem Bildschirm. Eine verfrühte Frühlingsfliege. Herr und Frau Pinguin sind angekommen. In Kleinmachnow. Bei Berlin. Unter der Kuppelkrone eines Bergahorns.
 
14.3.06
  Postkarten aus Berlin
Hiermit lade ich herzlich ein zu meiner Abschiedslesung in Krakau sowie zur Vorstellung meines Buches, das in Kürze erscheinen wird:
Pocztówki z Berlina (in polnischer Sprache)
Moderation: Katarzyna Fortuna
Dienstag, 14 März 2006, 18.00 Uhr
Goethe-Institut
Rynek główny 20, Kraków
Die Veranstaltung findet in polnischer Sprache statt

© Hildegard Skowasch - Das Zimmer des Schriftstellers
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Textauszug:

… Mein erweitertes und leidenschaftliches Polen: es reicht jetzt bis nach Berlin. Bis ins innerste Mark. In den Bezirk Mitte. (…) Ich steuere auf die Installation von Hildegard S. zu. Auf die Raumkomposition, wie Kenner das nennen. Schwarzweiß. In der Ecke steht ein Tisch, ein weißer, aus Papier mit ... – und hier werden meine Knie weich. Ich spüre eine seltsame Kraftlosigkeit in den Muskeln, die unerwartete Oktoberhitze hat sie geschwächt. Ich sinke. Einfach unter den Zungenbrechertisch mit den wackligen Beinen! Stół z powyłamywanymi nogami. An der Wöhlertstraße in Berlin! An dieser unscheinbaren Straße, die nach einem unscheinbaren Industriellen des 19. Jahrhunderts benannt ist, Herrn Wöhlert, der hier einst seine Eisengießerei besaß. (…) Ich erhebe mich mit Mühe und schaue mich um. Begrüße Hildegard und entschuldige mich, dass ich unter der Tür über meine eigenen Füße gestolpert sei. Wie hätte ich ihr erklären können, dass der Papiertisch mich aus den Latschen gekippt hat? Dass ich einen Moment leichter Geistesverwirrung erlebte. Eine kurzanhaltende Blendung. Ruhig betrachte ich den Rest des installierten Zimmers. Am Boden, nicht weit vom Tisch entfernt, liegt ein unförmiger Klumpen, auch aus weißem Papier, auch ultraleicht und unzerstörbar, mit einem Haken – falls ihn jemand an die Wand hängen möchte – und umschlungen von einem schwarzen Wortfluss „undundundundund...”. Unsymmetrisch. Deutsch. An den Wänden hängen Gitterflächen. Von Hand ungeometrisch ausgeschnitten aus einem riesigen Stück grauem Filz. Farblich passend zum schmutzigen Fußbodenbelag. An der Wand gewinnt der stumpfe Filz Kristallstruktur. Wie der zugezogene Himmel. Der Tiefe gewinnt. Konvexität. Mehrdimensionalität. Entgegen allem Anschein. Das Netz bildet einen Raum. Auf die unteren Fensterteile klebte Hildegard identische Gitter. Aber weiße. Aus Papier. Und auf den oberen Teilen der dreiflügeligen Fenster brachte sie einzelne Papierbuchstaben an: U und N und D. Auf jeder Öffnung ein Buchstabe. Die, in den Augen der Passanten auf der Straße des Herrn Eisengießers Wöhlert, ein riesiges UND bilden.
„Wir befinden uns im Zimmer des Schriftstellers”, sagt Hildegard, die keine Schriftstellerin ist.
Ich schaue mich wieder um. Ich befinde mich in einem Raum, der von unregelmäßig miteinander verflochtenen Linien aus brennbarem Material abgeschlossenen wird. Und vollgestopft ist mit nur dem einen Wort: „und”.
„Und”, erläutert Hildegard, die keine Polin ist, „ist das wichtigste Wort. Die Verbindung von Gedanken. Kettenglied der Ereignisse. Zusammenschluss von Figuren. Baustoff der Welt.“
Ich wundere mich, warum der Tisch steht. Warum er sich auf den eigenen wackligen Beinen hält.
„Im Innern befindet sich ein Gerüst”, führt Hildegard bereitwillig aus, „ein Geflecht aus dünnem Draht. Ausgestopft mit Berliner Tageszeitungen. Dies verleiht der Konstruktion entschieden mehr Halt. Um dieses Gerüst klebe ich mehrere Schichten Papier, so viele wie der Tisch braucht. Hier wird uns beiden viel Geduld abgenötigt, denn jede Papierschicht muss zuerst richtig austrocknen, bevor ich die nächste darüber kleben kann. Das Papier und die klebrige Mehlmasse. Trocken wie Hobelspäne. Ohne einen Rest von Flüssigkeit. Machen den Tisch aus. Verleihen ihm schließlich, nach vielen untätigen und von Gedanken losgelösten Momenten des Wartens, Standfestigkeit. Kraft. Halt. Ansonsten würde alles in sich zusammenbrechen. Auf der Stelle.”
„Heißt das, dass die Stabilität eine Frage der Zeit ist?”
„In gewissem Sinne ja!”

© Judith Arlt
Auszug aus der Postkarte „Der Zungenbrechertisch”
 
10.3.06
  Ein Tag, wie bei der Frisöse
Die Zeit vergeht im Fluge. Bereits 147 Monate. Seit der Eheschließung mit dem Allerbesten Deutschen. Bereits 147 Monde. Ich begab mich tapfer zu Jola. Trotz Hundewetter. Es goss aus Kübeln. Vom Himmel. Und unter den Füßen schmolz der Schnee. Ich schwamm durch die Lange Straße zu Jola.

Wie die Zeit vergeht. So einen Frisörsalon habe ich meiner Lebtag noch nicht gesehen. Hand aufs Herz. Am Freitagnachmittag. Sitzt dort eine Handvoll nicht mehr ganz frischer Frisörinnen herum und stiert. Gelangweilt. Mit trübem Blick. Fast wie in Warschau. Bei Konwicki. Jede ungekämmte Person an, die hereinkommt. Nur für Jolas Stuhl muss Frau anstehen. Die Kundinnen werden nicht auf Zeit bestellt. Bitte setzen Sie sich und warten. Ich dachte, ich sei zu spät. Und entschuldigte mich. Ach wo. Hier gibt es keine Stundenanzeiger. Die anderen toupieren sich gegenseitig. Mit einem entsetzlich laut heulenden Fön. Und einer Bürste. Das einheitlich blondierte dünne Haar. Ich bin stolz, dass es mir gelungen ist, die Haare nicht mehr zu färben. Während dieses Krakauer Winters. Die neue Brille habe ich speziell zu meinen mit Schnee bestäubten Schläfen ausgesucht. Die Poesie welkender Jahre.

Wie doch die Zeit vergeht. Die Frau vom Verlag sagt, sie warte auf den Text. Und ich zaudere. Warte auf Wörter. Ohne Wörter kein Text. Ohne Inspiration keine Wörter. In der „Prowincja” warte ich auf Kasia. Wir stellen das Programm für kommenden Dienstag zusammen. Blättern in den Postkarten. Auf der Suche nach den richtigen Wörtern. In der Nacht staubt es vom Himmel. Oder von der Zimmerdecke. Unter dem Dach. Wunderliche Erinnerungen an Basel. Es ist wie immer. Ich gerate in helle Aufregung. Weil Kasia mich doch tatsächlich vor allen Leuten fragen will, wo ich mich zu Hause fühle. Und wenn ich sage, wahrheitsgemäß – Hand aufs Herz! (wie dumm und aufrichtig ich Schweizerin immer noch bin) – dass, na ja, „hier“ natürlich … dann wird dieses winzige, unschuldige Wort „hier“ von einem eisigen Gebirgsbachwasserfall nicht enden wollender weiterer Fragen überschüttet, aber warum, und wozu, und was ist eigentlich, und überhaupt, was soll denn …

Wie die Zeit vergeht. Schon 147 Monate. Der Allerbeste Deutsche jagt über die Internationale Tourismus Börse in Berlin. Ich jage durch mein erstes Kapitel. Überarbeite gehorsam. Bin verzweifelt. Ich verfasste es im Amok – und kann mich jetzt an nichts mehr erinnern. Woher kommen diese schönen mit Schnee bestäubten Gedanken? Aus dem Spiegel im Frisörsalon.

Die Zeit vergeht im Fluge. Jola spricht so schnell, dass ich kaum ein Wort verstehe. Sie lobt mein Haar. Und knipst mit den Scheren, rechts und links, dass ich weggucken muss. Aus dem Spiegel. Bei Konwicki heißt so ein Tag „Donnerstag, Feierlichkeiten zum fünfundzwanzigsten Jahrestag“. Bei uns heißt er anders. Wir müssen uns an die Monate halten. An die Monde. Um irgendwelche Jahresringe zu erklimmen. Brillantene. Hölzerne. Aus Stahlbeton. Wir hüten uns vor Nachäffereien. Bald ist Vollmond.
 
8.3.06
  Ein Tag, wie bei der Schneiderin
Ich habe keine Zeit. Aber im Schrank liegen einige Meter Naturseide erster Qualität. In tiefstem Rot. Ein Stück. Von mindestens sechs Metern Länge (die Schneiderin weiß es genau, denn sie nahm Maß). Und ein anderes, etwas kürzer, vielleicht nur viereinhalb Meter lang, und in einem leicht blässlichen Altrosa. Fast wie Kinderwangen im Winter.

Ich habe absolut keine Zeit mehr. So scheint es mir. Aber mit diesem Stoff, dem Weihnachtsgeschenk meines Sinologen, muss schließlich etwas geschehen. Ich kann damit nichts anfangen. Also begab ich mich damit zur Schneiderin. Das heißt, wir trafen uns im Café an der Krupnicza-Straße. Sie schlug mir verschiedene Schnitte vor. Eine Schneiderin weiß alles, kaum berührt sie den Stoff, weiß sie schon, sieht und spürt den Geruch der Frühlingssonne auf der nackten Haut. Ärmel? Wozu Ärmel? Sie nahm Maß von verschiedenen Teilen meines Körpers. Im Café Libelle saß gerade niemand. Von denen ich bisher gar nicht wusste, dass es sie gibt. An mir. Die Libelle ist ein normalerweise grell gefärbtes Insekt. Besitzt zwei durchsichtige Membranflügelpaare. Fest wie meine Engelinnen. Und lebt auf dem Wasser. Sie notierte sich alles mit seltsamen Abkürzungen. Mit irgendwelchen Buchstaben. Mit einem roten Kugelschreiber. Hier A, und dort B. Hier Länge, dort Breite. Und dann noch Taillienumfang. Kopfumfang. Nein, einen Hut näht sie mir nicht. Und Brustkorb. Herz. Lunge. Brustbein und Rippen. Zwerchfell. Atmen muss ich. Mit oder ohne Naturseide.

Ich habe keine Zeit. Ich wusste nicht, was sich rund um meinen Hals so alles tut. So eine Naht, oder eine andere. Flach oder aufgetrennt. Der Kragen. Weich oder Steif. Stehend oder liegend. Weiß. Oder in der Farbe. Der Naturseide. Verschlüsse. Eclair. Oder Knöpfe. Auch in der Farbe. Der Bauch ist flach. Oder aufgebläht. Vielleicht nehme ich doch in der nächsten Zeit noch etwas zu. Immer nach fünf singen jetzt die Vögel im Park. Sie sind Lichtempfindlich. Nicht Temperaturempfindlich. Und der Baum vor meinem Fenster reckt schon seit langem Knospen in den Himmel. Dicke. Satte. Feuchte. Die gleich aufplatzen. Vor Lust.

Ich habe wirklich keine Zeit mehr. Bei Konwicki heißt so ein Tag „Donnerstag, wie der Besuch beim Zahnarzt“. Bei mir heißt er anders. Ich muss mich vor Nachäffereien hüten. Aber ich bin in meinem Element.

Ich habe keine Zeit. Den Stoff, die Naturseide bester Qualität, übergab ich der Schneiderin zu getreuen und geübten Händen. Sie, kaum berührt sie ihn, weiß bereits alles. Und ich sitze stundenlang, wochenlang, jahrelang. Und weiß noch immer nichts.
 
3.3.06
  Brief an die Schweiz
Ich arbeite hart. Der erhobene Zeigefinger von Herrn Konwicki ist überall. Kürzlich hörte ich in der Nacht Jan Machulski. Er erzählte in der Sendung „Aufzeichnungen aus der Gegenwart” (sehr zu empfehlen, im zweiten Programm, jeweils um 23.45 Uhr, oder am Nachmittag, wann genau weiß ich nicht, tagsüber schläft mein Krakauer Radio) von den Filmarbeiten zu „Der letzte Sommertag“. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht – obwohl es die normalste Sache der Welt war: damals, im Jahr 1958, war die Ostsee eine natürliche Staatsgrenze. In Polen genauso wie beispielsweise in Stralsund, bzw. der ganzen Küste der damaligen DDR entlang. Und grenznahe Gebiete waren immer gut bewacht. In Polen genauso wie in der DDR. Man war auf der Hut, es hätte ja einer abhauen können, auf dem Rücken nach Bornholm schwimmen, oder in einem Fischkutter nach Kopenhagen paddeln. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, wie dieser Film im Sand, direkt an der salzarmen Ostsee gedreht werden konnte. Jetzt weiß ich es. Und wundere mich über meine alpenländische Naivität. Einmal mehr.

Ich arbeite hart. Letzte Nacht gelang es mir, die fingierte Korrespondenz zwischen zwei email-Adressen aufzuschreiben. Endlich. Ein Auftragstext. Für eine seltsame Anthologie. In der Briefe vereint werden sollen von sogenannten Auslandschweizern. Also von solchen, die abgehauen sind. Auf dem Rücken schwimmend. Oder im Fischkutter frierend. In den Alpen sieht die Welt anders aus. Deren Briefe. An die Schweiz. Wurden gesucht. Ich hatte sofort abgewehrt. Dass ich an die Schweiz nie im Leben einen Brief schreibe. Dass ich keine Folklore formuliere. Dass ich kein einziges Wort der Sehnsucht kenne. Das auf mein Vaterland passt. Wie ein Hut auf den Kopf. Der Abgabetermin war längst verstrichen. Und ich spürte ein weiteres Schwert eines weiteren Damokles über meinem Kopf. Ich war müde. Aber nach den Aufzeichnungen aus der Gegenwart setzte ich mich hin und schrieb. Emails. An meine Freundin Frieda.

Ich arbeite hart. Wojtek schickte das erste Kapitel mit den Korrekturen zurück. Ich habe noch keinen Blick auf das Manuskript geworfen. So sehr fürchte ich mich. Kasper brachte mir aus Kwiatonowice die lektorierten „Postkarten”. Mein Gott, was tu ich hier bloß? Inmitten dieser Korrekturseitenberge. Wolfgang hat erst den ersten Koffer mitgenommen.

Ich arbeite hart. Bin unausgeschlafen. Und winterblass. Ich gehe in letzter Zeit fast gar nicht mehr aus dem Haus.
 

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