krakau
21.3.06
  Flunkerblume
Gestern Abend, genau um 19:27 Uhr begann in Polen der astronomische Frühling. In den Wettermeldungen heißt es, dass wir auf den sogenannten thermischen Frühling noch etwas warten müssen. Dann warten wir also.

Heute um 10:00 hatte ich meine letzte Polnischstunde. Ich lernte, dass im sechzehnten Jahrhundert der Monat April im polnischen „łżykwiat” hieß [von „łży“ zu „łgać: łżę, łżesz, łże …“ = lügen: ich lüge, du lügst, er lügt … + „kwiat“ = Blume; also Schwindelblume, Lügenblume, Flunkerblume oder Pseudoblume]. Wie schön! Heute heißt der April „kwiecień” [von „kwiat“ = ganz einfach Blume, ohne flunkern, schwindeln, lügen, vorspielen usw.]. Ich frage mich, wie es kommt, dass der Name des Monats geändert wurde. Und was er ursprünglich bedeutete. In der „Sprache der altertümlichen Polen“ (Zitat aus dem Wörterbuch der polnischen Sprache des 16. Jh.).

Angeblich setzten die Klimatologen schon längst Kriterien fest für den Thermischen Frühling. So wie es bestimmt Kriterien dafür gibt, in welchem Moment atmosphärische Niederschläge von Regen zu Schnee übergehen. In welchem Moment wir nicht mehr im normalen Regen stehen, sondern im radioaktiven. Um nur ein Beispiel zu nennen. Wir wissen nicht, ob nicht in naher oder ferner Zukunft Regenschirme überhaupt aufhören, irgendeine Rolle in unserem Leben zu spielen. Aber bleiben wir beim Hier und Jetzt. Noch fällt Schnee. Jedenfalls bedeckt eine bereits ziemlich feste weiße Decke meine Nachtfenster. Meine schiefen Fenster im schrägen Ziegeldach, die mir an klaren Tagen Einsicht in den Himmel gewähren. Morgen frage ich die Vorsehung, was den Schnee von Regen unterscheidet. Der sogenannte thermische Frühling ist dann gekommen, wenn während mindestens drei Tagen die durchschnittliche Tagestemperatur zwischen 5 und 10 Grad Celsius liegt. Warten wir ihn also ab.

Monatsnamen lassen sich schließlich nicht einfach so ablegen. Monatsnamen sind keine Winterstiefel oder wattierte Jacken. Die wir eines schönen Tages abstreifen und für den Rest des Jahres in den Schrank hängen oder stellen. Wann und warum entstand aus der geheimnisvollen „Flunkerblume“ [„łżykwiat”] das banale „Blumenmeer“ [„kwiecień”]? Eine Frage an das etymologische Wörterbuch. Unter meinem Dach gibt es weder Blumen noch Bücher.

Ein gewisser Herr Agrometeorologe aus Bydgoszcz fand heraus, dass Blumen Temperaturschwankungen sehr schlecht ertragen. Ich ertrage Stimmungsschwanken schlecht. Denn im Fall von Temperaturschwankungen kenne ich einfach Lösungen. Ziehe ich Wollstrumpfhosen an. Und mir wird warm ums Herz. Blumen kennen keine Kleiderschränke. Sie leiden, wenn nachts und am frühen Morgen die Temperatur unter Null sinkt, tagsüber aber in der bleiernen Sonne stark ansteigt. Dies hat angeblich zur Folge dass „tagsüber die Lebensaktivitäten der Pflanzen geweckt werden, die Nacht diese Prozesse aber wieder zurückdrängt.“ Die Blumen befinden sich also im Moment in einem Antievolutionsstadium. Mein Baum hat schon seit längerer Zeit Knospen. Feuchte. Und leidenschaftlich ungeduldige.

Und wir? Wir warten mit Handschuhen. An der Bushaltestelle. Auf den thermischen Frühling.
 
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