krakau
30.3.06
  Abschied
In drei Stunden verlasse ich Krakau-Balice – mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Mit einem hinkenden und einem tanzenden Bein. Mit einem schweren Koffer. Und einem leichten Kopf.

In vier Stunden lande ich in Berlin-Schönefeld – mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Mit einem tanzenden und einem hinkenden Bein. Mit einem leichten Koffer. Und einem schweren Kopf.

Ich habe im letzten halben Jahr in Krakau wie ein Antonymwörterbuch gelebt. Der Herbst war sehr bunt, der Winter sehr kalt, meine Gedanken sehr klar, die Sprachen scharf getrennt, die Träume aufgehoben. Im Himmel. Über dem Dach.

Ich bedanke mich bei allen, die mir Gesellschaft geleistet haben!

Der Krakau-blog wird Ende Monat abgeschlossen (bleibt aber vorläufig weiterhin online).

Ich freue mich auf den Frühling!
 
27.3.06
  Das Antonymwörterbuch
Das Wochenende verbrachte ich in Kwiatonowice. Verabschiedete mich von den Unteren Beskiden. Weißüberzuckert das schöne Land. Und von Magda und Kasper. Fleißig, wie immer. Vorläufig, versteht sich. Nichts blühte. Der April mit seinen Flunkerblumen ist noch weit. Wie der dünne Schnee auf den Nordhängen. Der Regen hört nun nicht mehr auf. Bis alles Weiß weggespült ist.

Kasper und ich arbeiteten. Überprüften den Index für das Antonymwörterbuch. Von „agogika” bis „quasi”. Mehr Buchstaben gab uns die Zeit nicht. Geizig, wie sie ist. Wir überprüften nicht die Wörter. Deshalb habe ich keine Ahnung, wie das Antonym von „agogika” ist, oder von „quasi”. Wir überprüften nur die hinter den Wörtern angegebenen Nummern. Die Zahlen der Seiten, auf denen das betreffende Wort auftaucht. Mein Hörverständnis Polnisch ist ausgezeichnet. Kasper las die Zahlen (insgesamt ungefähr 14 639), denn ihm kamen sie besser und eindeutig schneller von den Lippen, während ich auf Richtigkeit und Druck (gerade, fett, kursiv) achtete. Und das alles im Tempo eines japanischen Shinkansen. Wir rasten mindestens dreimal über die Inseln.

Der Buchstaben „ó” hatte nur zwei Einträge: „ów” und „ówczesny”. Am meisten Wörter gab es unter „n”. Alle Verneinungen von was auch immer fangen an mit „nie-“ und hockten sich sofort in meinem Nacken fest. Plötzlich saß mir die ganze polnische Sprache mit all ihren eigensinnigen Zahlen (175 sto siedemdziesiąt pięć, 313 trzysta trzynaście, 777 siedemset siedemdziesiąt siedem ...) im Nacken und versteifte meine Wirbelsäule bis zum Steißbein hinunter. Für immer und ewig setzten sich Wörter im Mark fest wie „prowodyr”. Oder „orli (nos)” – sic! Unter „ć” fanden sich auch nur drei Ausdrücke: „ćma“, „ćpać“ und „ćwierćinteligent“. Ich frage mich, wie das Antonym von „ćwierćinteligent” (der Viertelintelligenzler) lauten könnte. Halbintelligenzler oder Achtelintelligenzler? Leider weiß ich gar nichts von Fußnoten oder Verweisen. In diesem Wörterbuch.

Am Abend erfreute Magda meinen ganz versteiften Rücken und meine ganz versteifte Seitenzahlenseele mit dem Zitat des Tages: „Jesteśmy żadnym społeczeństwem. Jesteśmy wielkim sztandarem narodowym.” [Wir sind keine Gesellschaft. Wir sind eine große Nationalfahne] (Cyprian Norwid in einem Brief an Michalina Zaleska, aus dem Hause der Dziekońskis, vom 14. November 1862). Leichter verdaulich ist die volkstümliche Zitierweise: „Die Polen sind ein wunderbares Volk, aber eine absolut wertlose Gesellschaft.”

Ach, wie herrlich sind doch Antonyme.
 
25.3.06
  Blumenland
Ich verreise. Ins Land der Blumen. Nach Kwiatonowice. Ins Bögli-Haus. Angeblich hat das Dorf den Namen von der Königin Jadwiga bekommen. Der Blumen wegen ["kwiat" - wir erinnern uns, an den April und die Flunkerblume]. Die Königin Jadwiga spielt keine geringe Rolle in meinem Krakauer Leben. Die Strasse, die nach ihr benannt ist, führt mich jeden Tag in die Welt hinaus.
Wer mitkommen will, kann das über www.kwiatonowice.za.pl tun.
 
24.3.06
  Der zweite Koffer
Wolfgang ist bereits wieder verschwunden. So wie fast alles. Aus meinem Zimmer unter dem Dach. Er hat den zweiten Koffer mitgenommen. Randvoll. Und ihn dem Bauch einer orangefarbenen easyjet-Maschine übergeben.

Als Zusatzgepäck nahm er die Traurigkeit mit. In einem sehr unrentablen. Unfassbaren. Und ungezähmten. Metallkoffer. Mit Lebendgewicht. Schwiegermutter ist ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ihr Herz kann nicht mehr.

Meinem Großvater in Amerika geht es auch schlecht. Er ist mehrmals gestürzt. Hat sich Rippen gebrochen. Den Kopf aufgeschlagen.
Sein Puls hämmert ungestüm in den Schläfen.

Da hilft keine Widerrede. Übergewicht muss bezahlt werden. Alles muss bezahlt werden. Ein überfüllter Removakoffer genauso wie das Leben auf halben Touren. Wolfgangs Mutter, meine Schwiegermutter ist eine sogenannte „Trümmerfrau“. Sie gehört zu der Generation von Frauen, die nach dem Krieg zerbombte Städte von Trümmern leer räumten. Im konkreten wie im übertragenen Sinn. Sie gehört zu der Generation von Frauen, die immer irgendwie zurechtkommen mussten. Die nie ihre Kräfte schonten. Nie ausruhten. Wolfgangs Mutter kann nicht sagen, dass sie sich schlecht fühlt. Immer heißt es: „Das wird schon wieder!“ So war das vor fünf Jahren. Als sie den ersten Infarkt hatte. Und fand, das würde schon wieder. Ein Aspirin schluckte und sich hinlegte. Am nächsten Tag fuhr sie in einem überfüllten BVG-Bus zum Arzt. Immerhin. Der schickte sie sofort mit der Feuerwehr ins Krankenhaus. Auf die Intensivstation.
Es war nicht ganz zu spät. Aber ihr halbes Herz pumpt seither nicht mehr.
Und jetzt ist die andere Hälfte müde.
 
23.3.06
  Der dritte Tag, wie bei der Schneiderin
Gestern kam Wolfgang. Heute hörte es auf zu schneien. Aber der thermische Frühling ist noch immer nicht da.

Wir fuhren an die Priester-Turek-Strasse. Zur dritten Anprobe. Bei meiner Schneiderin. Sie näht mir vier oder fünf Teile. Zum Anziehen. Ein Kleid. Einen Rock. Ein Oberteil. Ich weiß nicht, was noch. Andauernd kommen mir Wörter abhanden. Aus einem Stoffrest soll nun noch ein Schal genäht werden. Andauernd muss etwas anprobiert werden. Die rechte Seite liegt gut. Die linke schlecht. Seltsam, dass meine Brüste so ungleich sind. Die Zeit nimmt ab. Wie der Vorrat an Naturseide. Bei Konwicki las ich eine Anekdote über den Schneider von Władysław Gomułka. Die Zensur strich ihm damals die Preise. Den einen Preis (den nationalen, in polnischer Währung) sowie den anderen Preis (den internationalen, in der Währung der Geschwätzigkeit, die überall auf der Welt für Nachlass sorgt).

Ich zitiere die zensierte Version: „Die Anzüge ließ sich Gomułka von einem gewissen Schneider anfertigen, der für seine Arbeit 700 zł verlangte, obwohl andere in seinem Atelier mehr bezahlen mussten.” (Kalendarz i klepsydra, Ausgabe 1982)

Ein ordentlicher Satz. Makellos. Wie die Schweizer Küche.

Und hier die unzensierte Version: „Die Anzüge ließ sich Gomułka von einem gewissen Schneider anfertigen, der für seine Arbeit 700 zł verlangte, obwohl andere in seinem Atelier ohne Widerrede 2400 zl bezahlen mussten.” (Kalendarz i klepsydra, Ausgabe 2005)

Ein Satz mit Schuss. Und konkreten Zahlen. Wie die georgische Küche.

So wurde das damals zugeschnitten. Heute gibt es scharf geschliffene Schneiderinnenscheren. Und eine Strasse, die nach Priester Wincenty Turek benannt ist.
 
21.3.06
  Flunkerblume
Gestern Abend, genau um 19:27 Uhr begann in Polen der astronomische Frühling. In den Wettermeldungen heißt es, dass wir auf den sogenannten thermischen Frühling noch etwas warten müssen. Dann warten wir also.

Heute um 10:00 hatte ich meine letzte Polnischstunde. Ich lernte, dass im sechzehnten Jahrhundert der Monat April im polnischen „łżykwiat” hieß [von „łży“ zu „łgać: łżę, łżesz, łże …“ = lügen: ich lüge, du lügst, er lügt … + „kwiat“ = Blume; also Schwindelblume, Lügenblume, Flunkerblume oder Pseudoblume]. Wie schön! Heute heißt der April „kwiecień” [von „kwiat“ = ganz einfach Blume, ohne flunkern, schwindeln, lügen, vorspielen usw.]. Ich frage mich, wie es kommt, dass der Name des Monats geändert wurde. Und was er ursprünglich bedeutete. In der „Sprache der altertümlichen Polen“ (Zitat aus dem Wörterbuch der polnischen Sprache des 16. Jh.).

Angeblich setzten die Klimatologen schon längst Kriterien fest für den Thermischen Frühling. So wie es bestimmt Kriterien dafür gibt, in welchem Moment atmosphärische Niederschläge von Regen zu Schnee übergehen. In welchem Moment wir nicht mehr im normalen Regen stehen, sondern im radioaktiven. Um nur ein Beispiel zu nennen. Wir wissen nicht, ob nicht in naher oder ferner Zukunft Regenschirme überhaupt aufhören, irgendeine Rolle in unserem Leben zu spielen. Aber bleiben wir beim Hier und Jetzt. Noch fällt Schnee. Jedenfalls bedeckt eine bereits ziemlich feste weiße Decke meine Nachtfenster. Meine schiefen Fenster im schrägen Ziegeldach, die mir an klaren Tagen Einsicht in den Himmel gewähren. Morgen frage ich die Vorsehung, was den Schnee von Regen unterscheidet. Der sogenannte thermische Frühling ist dann gekommen, wenn während mindestens drei Tagen die durchschnittliche Tagestemperatur zwischen 5 und 10 Grad Celsius liegt. Warten wir ihn also ab.

Monatsnamen lassen sich schließlich nicht einfach so ablegen. Monatsnamen sind keine Winterstiefel oder wattierte Jacken. Die wir eines schönen Tages abstreifen und für den Rest des Jahres in den Schrank hängen oder stellen. Wann und warum entstand aus der geheimnisvollen „Flunkerblume“ [„łżykwiat”] das banale „Blumenmeer“ [„kwiecień”]? Eine Frage an das etymologische Wörterbuch. Unter meinem Dach gibt es weder Blumen noch Bücher.

Ein gewisser Herr Agrometeorologe aus Bydgoszcz fand heraus, dass Blumen Temperaturschwankungen sehr schlecht ertragen. Ich ertrage Stimmungsschwanken schlecht. Denn im Fall von Temperaturschwankungen kenne ich einfach Lösungen. Ziehe ich Wollstrumpfhosen an. Und mir wird warm ums Herz. Blumen kennen keine Kleiderschränke. Sie leiden, wenn nachts und am frühen Morgen die Temperatur unter Null sinkt, tagsüber aber in der bleiernen Sonne stark ansteigt. Dies hat angeblich zur Folge dass „tagsüber die Lebensaktivitäten der Pflanzen geweckt werden, die Nacht diese Prozesse aber wieder zurückdrängt.“ Die Blumen befinden sich also im Moment in einem Antievolutionsstadium. Mein Baum hat schon seit längerer Zeit Knospen. Feuchte. Und leidenschaftlich ungeduldige.

Und wir? Wir warten mit Handschuhen. An der Bushaltestelle. Auf den thermischen Frühling.
 
19.3.06
  Sonntag, Stelldichein mit Sekretärin
Meine an sich unsichtbare Sekretärin besuchte mich heute in Krakau. Und sofort trat die Sonne am Himmel aus den Wolken.

Meine an sich abwesende Sekretärin weiß alles über mich. Sie weiß, dass etwas in meinem Kopf arbeitet. So wie um acht Uhr morgens etwas in meinem Laptop arbeitet. Wenn sich AntiVir einschaltet. Und die ganze Festplatte absucht. Ohne dass ich zu wissen brauche, womit und zu welchem Zweck. Es arbeitet. Hart. Während einer knappen Viertelstunde. Und stört meine Fingerspitzen in äußerst geringem Masse. Die Programme reagieren etwas langsamer. Aber es wird gearbeitet. Hier und dort. Im Vordergrund. Im Hintergrund. Im vierten Grund. Und im Siebten Himmel. Irgendwo, in einer virtuellen Arbeitsstube. Das AntiVir aktualisiert sich sogar selbst. Im neunten Feld. In der fünfhundertneunten Zelle ...

Ja. In meinem Kopf arbeitet es unaufhörlich. Ohne dass ich weiß, was, womit und zu welchem Zweck. Nur meine Sekretärin weiß. Alles. Über mich und meinen Kopf. Ich kann also ruhig schlafen.

Ein halbes Jahr lang habe ich fast gar nicht geträumt. Ich schlief in Krakau. Im Zimmer mit der Nummer 22. Unter dem Dach des Łaski-Hauses. Nie träumte ich. Ich sah keine bunten Landschaften. Verweilte auf keiner menschenleeren Insel. Focht keine Streitigkeiten mit der Schweizer Familie aus. Nein. Nichts. Nichts störte. Ich schlief. Einen flachen Schlaf. Einen unaufgeregten Schlaf. Geradeaus. Wie die Fahrt mit dem Berlin-Warschau-Express. Unspektakulär. Wie der Märkische Sand. Es störte nichts. Weder die Alpen über Splügen. Noch der Atlantik vor Madeira. Die Nacht in Krakau ist stocktaub. Aber seit die Pinguine abgereist sind, finde ich keine Ruhe mehr. Kann ich mit niemandem mehr schlafen. Ich habe ein Doppelbett. Ich habe sogar zwei Doppelbetten. Frau Polka und Herr Tango krochen meist unter die eine Decke. Und ich unter die andere. Jetzt schlafen sie im Zelt unter dem Bergahorn. In Brandenburg. Und atmen regelmäßig frische Waldluft. Mich wecken im Morgengrauen Tränen. In der Früh dringen aufbrausende Abschiedsträume in meinen Schlaf. Intensive Startbahnsituationen. Internetverbindungen. Der Widerhall von Wolfgangs Atem über skype. In der Nacht setze ich den Kopfhörer auf. Und die erbosten Wellen des Indischen Ozeans schlagen an meine grauen Zellen. Meeresbrandung im Hirn. Ich hasse Abhöranlagen. Deshalb benütze ich in Polen das Mobiltelefon von Dorota. Ich schlafe und es klingelt. Es klingelt und ich schlafe. Mit offenen Ohren. Über denen das Head-set liegt. Mit schlaftrunkenen Fingerspitzen. Taste ich die Liste der Verbindungen auf dem kleinen Bildschirm ab. Und nehme an, dass ich die Nummer von Martin wähle. Egal, von welchem. Es ist kein einziger mehr da. Nacht. Stocktaub. Martins Stimme rauscht augenblicklich in meinem Kopf. Wie Fruchtwein. Die Stirn platzt. Von der Arbeit. In Grund und Boden. Martin begrüßt mich überschwänglich. Er kann nicht wissen, wer ich bin. Und schon fällt die Dämmerung ein. Ein Schweigen wie im Grab. Eine Stille wie im Cenotaf von Hiroshima. Ich sehe kein einziges Wort mehr. Die Sonne geht um 5:42 auf. Ich breche in Weinen aus. Schüttelfrost. Schulterzucken. Und ich wache auf. Und ich wundere mich. Ob das ein Traum war. Oder das Echo aus der Küche.

Meine immer diskrete Sekretärin wacht über meine ungezügelten Wörter. Manchmal setze ich sie zu Sätzen zusammen, die niemand verstehen kann. Nirgends. Niemals. Bis ans Ende der Welt. Nicht. Nur sie, meine einzige Sekretärin, versteht. Und ordnet. Und beruhigt. Im Kopf arbeitet immer etwas. Irgendein Programm wählt sich immer ein. Und ruft. Selbständig. Gedanken hervor. Bei Konwicki heißt so ein Tag „Montag, Stelldichein mit Kater Iwan“. Bei mir ist alles anders.

Meine Sekretärin hat Tag und Nacht Dienst. Oft raube ich ihr den Schlaf. Mit meinen Wörtern. Sie kam heute nach Krakau. Und sofort trat die Sonne aus den Wolken. Am Himmel.
 

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