krakau
27.2.06
  Der erste Koffer
Vor einem Jahr reisten wir ab. Aus Tsukuba. Hoben ab. Vom Rollfeld in Tokio Narita. Ließen Japan. Unter uns. Hinter uns. Ich für immer. Wolfgang ist in der Zwischenzeit bereits zweimal zurückgekehrt.
Erst ein Jahr. Ist vergangen. Und wieder haben wir Wolfgangs Geburtstag gefeiert. Wieder ist er nach dem Geburtstag sofort ins Flugzeug gestiegen. Diesmal nach Berlin. Mit dem ersten Koffer. Mit den ersten 20 Kilogramm. Papier.
Erst ein Jahr. Mein ganzes Leben teilt sich in die Zeit vor Japan und die Zeit nach Japan. Ich weiß selber nicht, warum. Aber so ist es. Mein Leben nach Japan (heute auf den Tag ein Jahr) scheint seltsamerweise genauso lang zu sein wie mein Leben vor Japan (47 Jahre und 3 Monate, mehr oder weniger). Roma wird mit dieser Gleichung bestimmt nicht einverstanden sein wollen. Mit meiner angewandten Mathematik. Aber im Leben muss es ein Gleichgewicht geben. Und deshalb zieht sich dieses letzte Jahr so entsetzlich lang hin.

Wolfgang nahm den ersten Koffer mit. Voller Papiere. Verschiedenster Art. Die Pinguine ließ er mir da, auch die Engel. Höchst ungern. Er packt hier schon seit Anfang Jahr zusammen. Ich sehe irgendwie keinen Grund. Zum Packen. Momentan geht alles nur zäh voran. Oder verharrt. Auf der Stelle.
 
23.2.06
  Einladung

Judith Arlt „SEIDEN – Mein Winter in Japan”

23 Februar, 19.00 Uhr
Massolit Books&Café
ul. Felicjanek 4, Kraków
(Stadtplan siehe www.massolit.com)


Im Programm:
Fragmente aus dem Tagebuch von Judith Arlt in polnisch, englisch und deutsch;
Fotos aus Japan von Wolfgang Arlt sowie Degustation japanischer Spezialitäten.



Textauszug:

„Es hat mich in ein Land verschlagen, das sauberer ist als die Schweiz.
Zu einer Jahreszeit, die ich lieber bei den Kaiserpinguinen auf dem Meereis in der Weddell See verbracht hätte.
Als begleitendes Familienmitglied eines Research Fellows der Japan Society for the Promotion of Science.
(...)
Winter in Japan. Ich habe reife Orangen an Bäumen hängen sehen. Aoki-san spricht von der Hochzeit der Erdbeerernte. Die Schulmädchen radeln in Schuluniformen zur Schule. Kniestrümpfe. Darüber Faltenrock. Dazwischen nackte Beine. Am Morgen immer unser erster Blick aus dem Fenster. Das Feld ist nicht selten raubereift. Kein Bauer harkt gefrorenen Boden.
Es ist, als ob die Kälte nicht zur Kenntnis genommen würde. Nirgends. Weder in den schönsten Gärten des Landes noch in den Wohnungen noch auf der Straße. In keinem Restaurant kann man seinen Mantel aufhängen. Vorgestern stapften wir am Chuzenji-See durch hohen, frischen, weichen, sanften, wunderbar unter den Füßen knirschenden, aber nassen Schnee. Mit uns ein paar vereinzelte junge Japaner. In Turnschuhen.”

© Judith Arlt
 
21.2.06
  Sehschule
Irgendetwas stimmt mit mir nicht. Ich leiste mir eine neue Brille. Und Kopfschmerzen. Und Magenschmerzen. Natürlich ist eine neue Brille für einen Menschen, der von Kind auf Brillenträger ist, so etwas wie ein neues Gesicht. Das heißt eine Sache der Eitelkeit. Etwa so wie mit den Haaren. An einem bestimmten Tag ist es unwiderruflich Zeit für den Frisör. Und wie wir wissen, ist auch das Leiden unwiderruflich. Kopfweh. Magensausen. Aber diesmal stimmt erheblich mehr mit mir nicht. Als sonst. Alles verschwimmt. Mein Sichtfeld ist ein aufgewühltes Meer. Die Ansichten der Welt stürzen in Wellen über mich. Und fallen zusammen. Das Schlimmste ist der Bildschirm. Und mein ganzer schöner Text. Mein plötzlich bewegliches intellektuelles Hab und Gut. Die Tasten tanzen unter den Fingerbeeren auf ihre Weise. Und die Buchstaben auf dem Bildschirm auf eine andere. Wie soll ich da noch schreiben? Wie das eigene Geschriebene lesen? Wo schreiben? Wo lesen? Was schreiben? Was lesen?

Ich fuhr zu Frau Krakowska. Wunderte mich, dass ich im Bus mit der neuen Brille problemlos die ganze Wochenendausgabe der Gazeta Wyborcza auslas. Hielt sie krampfhaft fest. Wie den Anker der letzten Rettung. Mitsamt Beilage, den Wysokie Obcasy [Hohe Absätze]. Problemlos stieg ich beim Rondo aus. Auf der Straße Tauwetter. Schmuddel. Matsch. Pfützen. Ich wusste nicht, ob das Wetter verrückt war oder meine Augen. Voller Tränen. An der Grunwald-Straße war mir wieder schwindlig. Die Enkel spielten ohne zu zetern im Zimmer am Boden mit Legosteinen. Aber in meinen Augen voller Salz vom Schwarzen und Roten Meer lagen sie auf einem Fliegenden Teppich. „Schnelle und erfolgreiche Anpassung.“ Erfreute mich das Flugblatt im Handgepäck, das ich im Bus 192 verlor. Frau Krakowska verbrachte einen ganzen Tag in der Küche. Knetete 180 Pieroggen. Mischte die Füllung. Russische. Mit Fleisch. Mit Käse. Wir aßen alle schön im kochenden Wasser schwimmenden gefüllten Pieroggen auf einen Schlag auf. Einschließlich der Gurkensuppe. Extra für mich gekocht. Wir waren 7 Erwachsene und 2 Kinder. Der Vater von Frau Krakowskas Enkeln – oder ihr Schwiegersohn – heißt Martin. Der wievielte Martin ist das in meinem Krakauer Leben? Auch die Zahlen haben sich verflüssigt. Die Enkel – die besten der Welt – glitten kampflos durch die Luft. Schwebten schwerelos. Über dem Parkett. Über den Steinplatten. Über der Küchentischplatte. Alle bewegten wir uns in der Luft von einer Stelle zur anderen. Von der Schlacht bei Grunwald zur Schlacht an der Bzura.

Mit mir stimmt etwas nicht. Ich muss von neuem die Welt sehen und ihre richtigen Bilder speichern lernen. Alles, was bisher stabil, sicher und beständig schien – fängt plötzlich an, sich zu bewegen. Rutscht ab. Rieselt weg. Ich verliere den Boden unter den Füssen. Den Fußboden unter den Beinen. Die Tischplatte unter dem Teller mit den Pieroggen und dem geschmolzenen Schweinefett. Die Treppenstufen unter den Schuhen. Den Läufer unter den nackten Sohlen. Alles unterhalb der Nase. Die Dame im Optikergeschäft sagte, ich müsste nun den Kopf mehr bewegen. Aber wenn ich den Kopf bewege, Verehrteste, dreht sich die ganze Welt. Zu meinen Füssen. In meinem Magen. Und mir wird sehr schlecht. Schon lange habe ich mich nicht mehr so elend gefühlt.

Ich war in der Polnischstunde. Ich muss von neuem lesen und schreiben lernen. Wo ist das Feld in meinen äußerst komfortabeln Gleitsichtgläsern, das mir erlaubt, einen Satz aus dem Lehrbuch zu erkennen? Hausaufgaben. Von Hand schreibe ich sehr unleserlich. Früher war ich kurzsichtig. Weder eine Seherin. Noch eine Künderin. Jetzt bin ich auf dem Weg zur Altersweitsicht. Ich besaß noch nie hellseherische Gaben. Sondern immer nur eine deutliche Sehschwäche. Vor allem am linken Auge. Das rechte erträgt alles tapfer. „Wann immer du einen Gegenstand scharf sehen willst, richte deine Nase darauf.“

Ich begab ich zu der Frau Optikerin. Die neue Brille, entworfen von Picassos Tochter, auf der Nase. Auf der Florianstraße bewege ich Kopf und Beine. Übel wird mir nicht mehr. Aber auf dem Bildschirm meines Laptops im Zimmer unter dem Dach kann ich nichts erkennen. Absolut nichts. Jammere ich. Nur verschmierte Wellen von elektrodynamischen Quantenteilchen. Klage ich. Und unter den Fingern habe ich die altmodischen Buchstaben der Tastatur. Tanzende eRs und eMs und Tes und eLs. Im Zimmer von Martin dem Älteren wohnt jetzt Lothar. Sogar im Łaski-Haus habe ich alles in Bewegung versetzt, wie während eines starken Orkans auf dem südchinesischen Meer. Die Frau Optikerin bittet seelenruhig um etwas Geduld. Und um Verständnis. Offenbar geschult an hysterischen Kundinnen. Sie haben drei Brillen in einer. Erklärt sie sachlich. Sie müssen üben. Die Augen trainieren. Das scharfe Sehen auf jede Entfernung. Die Gewandtheit der Finger auf der Tastatur. Auf dem Laptopbildschirm schäumt der Atlantik. Beschwere ich mich. Aber sie versteht mich nicht. Wenn ich jetzt den Blick von meinem Schreibtisch hebe, dann sehe ich am kalten Krakauer Himmel Flugzeuge auf dem Landeanflug nach Balice. Nie sah ich bislang auch nur ein einziges Flugzeug durch mein Dachfenster. Das kann verschiedene Gründe haben. Thermodynamische. Versuche ich mich zu beruhigen. Klimatische. Noch nie kam bislang der Wind aus Osten. Alles ist möglich. Gemäßigter Westwind. Frühestens in zwei Wochen. Sagt die Augensprecherin. Aber ich habe keine Zeit. Ich muss arbeiten. Auf diesem wütend schäumenden Atlantik. Über meinem Kopf hängt das Damoklesschwert. Der Finger von Herrn Konwicki. Sie hat weder mit Fingern etwa zu tun. Noch mit Schwertern. Nur mit Augen. Die Buchstaben unter der Haut, unter der Schläfe, unter dem Schädel spielen verrückt.

Die Polnischlehrerin klebte am Wochenende 100 Pieroggen zusammen. Für 4 Personen. In diesem Land ist der Mensch in der Küche am effektivsten. „Der Nutzer erfreut sich eines weiten und scharfen Sichtfeldes ohne jede Verzögerung“. Ich versehe nicht, was die Zeit hier zu suchen hat. Etwas stimmt mit mir nicht. Ich war im Radio. Und es stellte sich heraus, dass die Radiojournalistin einst in ihrer Jugend Probleme mit der polnischen Grammatik hatte. Das kann vorkommen. Wer hat sie nicht? Sie nahm damals Nachhilfestunden bei meiner Polnischlehrerin. Die Welt ist klein, lachte sie. Und ich kann nicht einmal diese kleingewordene Welt erkennen. Denn der Magen brennt. Wie lange nicht mehr.

Irgendetwas stimmt mit mir nicht. Die Welt stürzt mit Schmerzen über mich. Und fällt zusammen. Das Schlimmste ist der Laptopbildschirm. Und das ganze verschwörerische intellektuelle Hab und Gut. Jede Kleinigkeit läuft jetzt bereitwillig weg. Durch Hintertüren und Seitenausgänge. Wie soll ich da noch schreiben? Wie das eigene Geschriebene lesen? „Wir empfehlen Dir, der Versuchung, die alte Brille wieder aufzusetzen, standhaft zu widerstehen. Dies beschleunigt Deine Anpassung erheblich.“ Zitatende.
 
16.2.06
  Rekapitulation
Sätze aus dem Schulheft: ponieść klęskę (eine Niederlage erleiden), ponieść porażkę (eine Schlappe ziehen) – odnieść sukces (einen Erfolg erzielen), odnieść zwycięstwo (einen Sieg erringen). Antonyme.

Ich war lange nicht da. Nun versuche ich, die Zeit wieder zu finden. Und mich. Heute früh – schon wieder. Kilars Kavalleriemarsch. Im Radio Zwei. Ein Stück aus der Filmmusik zu „Chronik der Liebesunfälle”. Das Radio ehrt damit natürlich Andrzej Wajdas Goldenen Bären. Aber ich nehme diesen Marsch als Zeichen des Himmels. Lenk dich nicht weiter ab! Der erhobene Zeigefinger von Herrn Konwicki höchstpersönlich.
Gestern – gemäßigtes Tief, trotz Anruf von Kasper, dass er die Postkarten fertig korrigiert habe. Und freundlichen Worten, nicht nur zu den Texten. Nachts Schmerzen in den Beinen.
Vorgestern – dito, trotz Valentinstag und einer herzlichen email aus Danzig.
Montag – der Dreizehnte. Kündet von nichts Gutem. Wolfgang reist wortlos ab.
Sonntag – Anruf von Mutter. Ich dachte, jemand muss gestorben sein, aber es geht nur um eine dringende handschriftliche, notariell beglaubigte Unterschrift. Nervenzusammenbruch.
Samstag – der Elfte. Geburtstag von Roma. Wolfgang wütet in der Küche des Łaski-Hauses und vertreibt sogar mich. Chinesisches Essen mit Dorota und Benio.
Freitag – der Zehnte. Wir feiern 146 Monate Ehe. Während des Fluges von Berlin nach Krakau blättere ich im Halbschlaf den zweiten Interviewband mit Konwicki durch. Und finde, was ich suche: „Es ist außerordentlich wichtig, die eigene Stimme zu finden, die eigene Sicht der Dinge. Jeder sieht schließlich die Welt auf seine Art.“
Donnerstag – Berlin. In der Früh Erschöpfung, leichter Kater, Tai Chi an der Akazienstrasse, Kaffe mit Rhea, Heiko, Ursula, Hildegard im Café Bilderbuch. Von U. bekomme ich die Fotos aus Madeira. Das Ölbild „die heilige Anna und der heilige Joachim beim goldenen Tor“ eines unbekannten Meisters, das im Museum Arte Sacra in Funchal hängt. Darauf warte ich schon seit zwei Jahren. Es soll angeblich den polnischen König Ladislaus III, genannt Varnäer, und seine portugiesische Frau Eanes porträtieren. Wolfgang stößt zu uns, direkt aus dem Zug von der Ostsee. Dann Schwiegervater. Schwiegermutter. Schwager. Nächtliches Bier im Zwiebelfisch.
Mittwoch – Flug nach Berlin. Einzelstunde bei Monika an der Akazienstrasse. Die Erfahrung von Außenräumen (dazu später mehr, versprochen). Ein wunderbarer Damenabend mit Maria K. beim Italiener.
Dienstag, der siebte Februar: ich beende im Morgengrauen das erste Kapitel. Erledige Liegengebliebenes. Gehe zum Optiker und bestelle eine neue Brille. Eine Brille mit Gläsern für alles. Für den Computer. Für die Bücher. Für das Auto (obwohl ich keines besitze, auch keinen Führerschein). Für den Fernsehapparat (obwohl ich keinen besitze und nie fernsehe). Für die Strasse. Den Wald. Die Stadt und das Land. Krakau und Berlin. Die ganze Welt. Urbi et orbi.
Montag – ich quäle mich mit den letzten Sätzen. Unerwartetes Abendessen mit Martin dem Älteren.
Sonntag – ich quäle mich mit den letzten Sätzen. Unsere Schuhmacherin Frieda begeht heute ihr erstes halbes Jahrhundert. Spaziergang zu den Jungfrauenfelsen.
Samstag – ich quäle mich mit den letzten Sätzen.

Soviel zu den Antonymen. Ich ziehe Schlappen. Künstlerische. Erleide Niederlagen. Persönliche. Erziele Erfolge. Überzeitliche. Erringe Siege. Über die Wochentage. Das reicht. Sätze aus dem Schulheft.
 
3.2.06
  Vogelperspektive
Vor einigen Tagen las ich in der Zeitung, dass sich an der Weichsel in Warschau einige Dutzend Seeadler eingefunden haben. Angeblich fliegen sie zwischen der Altstadt und dem Bielańskiwäldchen herum – das heißt unter den Fenstern von Grażyna, meiner bescheidenen, immer unsichtbaren Sekretärin. Ich konnte damals nicht darüber schreiben, denn im ganzen Land wurde geschwiegen. Also hielt auch ich mich daran. Außerdem sind die Seeadler in Warschau erst heute richtig von Bedeutung. Denn heute ist Grażynas Geburtstag.

„Trink, o trink aus dieser Lehte und vergiss Leonore!“ – „NIMMER!“
Krächzte da der Rabe. „Nimmer!“

Den Himmel über der Brunstrasse, neben dem Mokotówfeld verdunkeln hingegen am frühen Morgen und kurz vor Einbruch der Dämmerung ganz gewöhnliche Raben. Sie versammeln von der Innenstadt kommend hoch in der Luft, so dass die Bewohner der Brunstrasse nicht einmal mehr den Kulturpalast erkennen können. Es sind Abertausende. Allesfresser. Mit scharfen, spitzen Schnäbeln. Und lilaglänzendem pechschwarzen Gefieder. Sie kommen abends. Setzen sich zum Schlafen in die Wipfel der alten Pappeln. Und stieben in der Früh wieder auseinander. Mit widerlichem Gekrächze. Bringen die langjährigen Mieter der zehnstöckigen Plattenbauten um den verdienten Schlaf. Bald taut es. Beklagen sich die immermüden Menschen. Und der Gestank auf der Strasse wird so schrecklich sein, dass wir die Fenster nicht mehr öffnen können. Im März beginnt die Brutzeit. Schon jetzt zerfressen die Exkremente der Raben den Lack der Autokarosserien. Und hinterlassen Flecken auf den taillenengen Kostüme der Damen. Wir können keine sozialen Kontakte mehr pflegen. Keinen Besuch mehr empfangen. Sagen die Brunstrassenbewohner und gehen nur noch mit Regenschirmen oder über dem Kopf aufgespannten Zeitungen aus dem Haus.

„Frag' ich dich, du Schicksalskünder: Ist in Gilead Balsam?“ – „Nimmer!“
Krächzte da der Rabe. „Nimmer!“

Die Krakauer Stadtverwaltung bestätigt seit Jahren die etwas bedauerliche Tatsache, dass der Intelligenz der Raben in den Planty nicht beizukommen sei. Die durchschnittliche Intelligenz und Phantasie der Beamten würde leider immer an der hoch entwickelten Intelligenz der Vögel scheitern. Auch die Hoffnung der Warschauer Brunstrassenbewohner auf Raubvögel wie Habichte oder Falken, welche die Raben endgültig aus ihrer Strasse vertreiben könnten, erweist sich als nichtig. In Krakau weiß man bereits, dass Raben, wenn sie einen Falken sichten, sich mit dem abscheulichsten Gekrächze in die Baumkronen zurückziehen. Darauf sind Falken nicht vorbereitet und erstarren vor Schreck. Deshalb hat man die herzlahmen Raubvögel nun auf den Wawel geschickt, wo sie in Frieden Spatzen jagen. In den Planty hat man hingegen angefangen, Rabennester herunterzuholen. Und zu zerstören. Damit wurde die Anzahl leicht dezimiert. Übrig blieben degenerierte, gefühlsentleerte Rabenfamilien. Die sich sogar in die letztes Frühjahr eingesetzten Schnellschusskanonen verliebten. Mit ausgelassenem Gekrächze begrüßten sie die auf Traktoren anfahrenden Kanoniere.

„Sag' mir, find ich nach dem trüben Erdenwallen einst dort drüben
Sie, die von dem Engelschore wird geheißen Leonore?
Werd' ich sie dort einst umarmen, meine Leonore?“ – „Nimmer”,
Krächzte da der Rabe. „Nimmer!”

Steinadler bewohnen Felsen und Wälder in Europa, Asien und Amerika. In Polen kommen sie selten vor. Die hellen Seeadler besiedeln vor allem die Strände Nordeurasiens. Sie meiden grundsätzlich Menschen, aber zum heutigen Tag haben sie sich mit ihren weißen Schwänzen vor den Fenstern des Geburtstagskindes eingefunden. Sie stehen unter Artenschutz, also kann ihnen in der Hauptstadt nichts passieren. Sie sitzen seelenruhig auf den Eisschollen unter der Śląsko-Dąbrowski-Brücke und jagen Enten und Fische. Nur hier finden sie offene Wasserstellen im zugefrorenen Fluss.
 
2.2.06
  Mariä Lichtmess
Ich habe mich an die Staatstrauer gehalten. Und schwieg. Wie ein Grab. Arbeitete. Wie eine Ameise. Mit dem Kopf. Schaute durch das Fenster in den kalten Himmel. Erinnerte mich. Und schwieg. Überließ mich der Eingebung. Und dachte nach. Über den Buchstaben „M”. Ich bete ihn an. Den fortwährenden Mangel an „M”. Auf der Tastatur. Unter dem rechten Zeigefinger. Dafür sind in letzter Zeit mehr Punkte zusammengekommen. Die ich nun geradezu vergöttere. Unter dem Ringfinger. Punkte. Immer mehr Punkte. Doppelpunkte. Auslassungspunkte Strichpunkte. Und der Punkt auf dem Strich. Das Pünktchen auf dem i.

Heute ist Mariä Lichtmess. Und ich bleibe zu Hause. Vierzig Tage nach Weihnachten. Endet auch in Krakau die Weihnachtszeit. Endlich werden die Bäume am Marktplatz von den nachts glitzernden Lampenketten erlöst.

Bei uns ging man an diesem Tag in die Kirche. Früher, vor langer Zeit. Mutter sagte, das sei gesund. Und gut für den Hals. Beschütze ihn. Für den ganzen Rest des Winters. Vor Schmerz. Und Entzündung. Gut für die Bronchien. Gut für alle Wege des Atems. Der Priester hielt uns Kindern zwei geweihte Kerzen über Kreuz an den Hals. Als ob er uns mit dem geweihten Wachs rituell erwürgen wollte. Und murmelte irgendetwas. Ich kann mich nicht erinnern, ob die Kerzen in den Händen des Priesters brannten oder nicht. Wie bei richtig Gestorbenen. Ob sie flammten. Ob das weiche reine Wachs über meine zitternden Schultern tropfte. Oder nicht.

Ich kann mich an nichts erinnern. Im Radio sagen sie, das heutige Fest werde auch „Mariä Reinigung” genannt. In diesem Land weiß das Radio alles am besten.

Schon wieder – zum wievielten Mal? – entdeckte ich Herrn K.’s Faszination des Buchstabens „K”. Kojran, Korwin, Kaziuk, Kękuś, Kuba, Kwok, Krupa, Krywko, Komar, Konar ... und wie sie alle heißen. Seine Romanfiguren. Vor zwanzig Jahren schrieb er, Herr K. mir eine Widmung in sein damals neuestes Buch: „der lieben Frau J. zur Erinnerung an die gemeinsame Qual“. Es gibt nichts Schlimmeres als das Erinnern. Für die Romanfiguren. Von Herrn K. Die er mit vielfältigen Buchstabenkombinationen, beginnend jeweils mit „K”, stigmatisiert. Ich übe mich in räumlichem Denken. In alphabetischen Ordnungen. Ich bewahre leere Zimmer. In meinem Kopf. Und werde sie irgendwann möblieren. Ganz bestimmt. Im ersten Stock des Łaski-Hauses haben alle Zimmer eine Nummer und einen Buchstaben. A oder B. Niemand weiß, warum. Und warum die Zimmer unter dem Dach, zu Unrecht eigentlich, nur mit Nummern ausgestattet sind. Ich wohne im Zimmer, das die Nummer 22 trägt. Mehr nicht.

Heute ist Mariä Lichtmess. Dies ist, wie so vieles andere, der volkstümliche Name dieses Festtages. Kommt aus dem Radio. Wie wenn es das Radio immer schon gegeben hätte. Der Festtagskalender hingegen nennt den zweiten Februar das „Fest der Darstellung des Herrn im Tempel“. Da Jesus der erste Sohn war, galt er als Eigentum Gottes. Er musste von den Eltern ausgelöst werden, wurde zum Priester gebracht und vor Gott „dargestellt“. Heute endet die Staatstrauer. Die ich tapfer durchstand. Mit Schweigen. Mit Arbeit. Mit Erinnern. Mit Nachdenken. Über den Buchstaben „K”. Ich bin vollkommen gesund. Im Zimmer zweiundzwanzig. Nichts fehlt mir. Weder im Hals noch im Bauch noch in den Beinen. Und die Bäume am Marktplatz werden endlich von ihrer nur nachts bunten Last erlöst.
 

ARCHIVES
Oktober 2005 / November 2005 / Dezember 2005 / Januar 2006 / Februar 2006 / März 2006 /


Powered by Blogger