krakau
2.2.06
  Mariä Lichtmess
Ich habe mich an die Staatstrauer gehalten. Und schwieg. Wie ein Grab. Arbeitete. Wie eine Ameise. Mit dem Kopf. Schaute durch das Fenster in den kalten Himmel. Erinnerte mich. Und schwieg. Überließ mich der Eingebung. Und dachte nach. Über den Buchstaben „M”. Ich bete ihn an. Den fortwährenden Mangel an „M”. Auf der Tastatur. Unter dem rechten Zeigefinger. Dafür sind in letzter Zeit mehr Punkte zusammengekommen. Die ich nun geradezu vergöttere. Unter dem Ringfinger. Punkte. Immer mehr Punkte. Doppelpunkte. Auslassungspunkte Strichpunkte. Und der Punkt auf dem Strich. Das Pünktchen auf dem i.

Heute ist Mariä Lichtmess. Und ich bleibe zu Hause. Vierzig Tage nach Weihnachten. Endet auch in Krakau die Weihnachtszeit. Endlich werden die Bäume am Marktplatz von den nachts glitzernden Lampenketten erlöst.

Bei uns ging man an diesem Tag in die Kirche. Früher, vor langer Zeit. Mutter sagte, das sei gesund. Und gut für den Hals. Beschütze ihn. Für den ganzen Rest des Winters. Vor Schmerz. Und Entzündung. Gut für die Bronchien. Gut für alle Wege des Atems. Der Priester hielt uns Kindern zwei geweihte Kerzen über Kreuz an den Hals. Als ob er uns mit dem geweihten Wachs rituell erwürgen wollte. Und murmelte irgendetwas. Ich kann mich nicht erinnern, ob die Kerzen in den Händen des Priesters brannten oder nicht. Wie bei richtig Gestorbenen. Ob sie flammten. Ob das weiche reine Wachs über meine zitternden Schultern tropfte. Oder nicht.

Ich kann mich an nichts erinnern. Im Radio sagen sie, das heutige Fest werde auch „Mariä Reinigung” genannt. In diesem Land weiß das Radio alles am besten.

Schon wieder – zum wievielten Mal? – entdeckte ich Herrn K.’s Faszination des Buchstabens „K”. Kojran, Korwin, Kaziuk, Kękuś, Kuba, Kwok, Krupa, Krywko, Komar, Konar ... und wie sie alle heißen. Seine Romanfiguren. Vor zwanzig Jahren schrieb er, Herr K. mir eine Widmung in sein damals neuestes Buch: „der lieben Frau J. zur Erinnerung an die gemeinsame Qual“. Es gibt nichts Schlimmeres als das Erinnern. Für die Romanfiguren. Von Herrn K. Die er mit vielfältigen Buchstabenkombinationen, beginnend jeweils mit „K”, stigmatisiert. Ich übe mich in räumlichem Denken. In alphabetischen Ordnungen. Ich bewahre leere Zimmer. In meinem Kopf. Und werde sie irgendwann möblieren. Ganz bestimmt. Im ersten Stock des Łaski-Hauses haben alle Zimmer eine Nummer und einen Buchstaben. A oder B. Niemand weiß, warum. Und warum die Zimmer unter dem Dach, zu Unrecht eigentlich, nur mit Nummern ausgestattet sind. Ich wohne im Zimmer, das die Nummer 22 trägt. Mehr nicht.

Heute ist Mariä Lichtmess. Dies ist, wie so vieles andere, der volkstümliche Name dieses Festtages. Kommt aus dem Radio. Wie wenn es das Radio immer schon gegeben hätte. Der Festtagskalender hingegen nennt den zweiten Februar das „Fest der Darstellung des Herrn im Tempel“. Da Jesus der erste Sohn war, galt er als Eigentum Gottes. Er musste von den Eltern ausgelöst werden, wurde zum Priester gebracht und vor Gott „dargestellt“. Heute endet die Staatstrauer. Die ich tapfer durchstand. Mit Schweigen. Mit Arbeit. Mit Erinnern. Mit Nachdenken. Über den Buchstaben „K”. Ich bin vollkommen gesund. Im Zimmer zweiundzwanzig. Nichts fehlt mir. Weder im Hals noch im Bauch noch in den Beinen. Und die Bäume am Marktplatz werden endlich von ihrer nur nachts bunten Last erlöst.
 
Comments: Kommentar veröffentlichen

<< Home

ARCHIVES
Oktober 2005 / November 2005 / Dezember 2005 / Januar 2006 / Februar 2006 / März 2006 /


Powered by Blogger