krakau
21.2.06
  Sehschule
Irgendetwas stimmt mit mir nicht. Ich leiste mir eine neue Brille. Und Kopfschmerzen. Und Magenschmerzen. Natürlich ist eine neue Brille für einen Menschen, der von Kind auf Brillenträger ist, so etwas wie ein neues Gesicht. Das heißt eine Sache der Eitelkeit. Etwa so wie mit den Haaren. An einem bestimmten Tag ist es unwiderruflich Zeit für den Frisör. Und wie wir wissen, ist auch das Leiden unwiderruflich. Kopfweh. Magensausen. Aber diesmal stimmt erheblich mehr mit mir nicht. Als sonst. Alles verschwimmt. Mein Sichtfeld ist ein aufgewühltes Meer. Die Ansichten der Welt stürzen in Wellen über mich. Und fallen zusammen. Das Schlimmste ist der Bildschirm. Und mein ganzer schöner Text. Mein plötzlich bewegliches intellektuelles Hab und Gut. Die Tasten tanzen unter den Fingerbeeren auf ihre Weise. Und die Buchstaben auf dem Bildschirm auf eine andere. Wie soll ich da noch schreiben? Wie das eigene Geschriebene lesen? Wo schreiben? Wo lesen? Was schreiben? Was lesen?

Ich fuhr zu Frau Krakowska. Wunderte mich, dass ich im Bus mit der neuen Brille problemlos die ganze Wochenendausgabe der Gazeta Wyborcza auslas. Hielt sie krampfhaft fest. Wie den Anker der letzten Rettung. Mitsamt Beilage, den Wysokie Obcasy [Hohe Absätze]. Problemlos stieg ich beim Rondo aus. Auf der Straße Tauwetter. Schmuddel. Matsch. Pfützen. Ich wusste nicht, ob das Wetter verrückt war oder meine Augen. Voller Tränen. An der Grunwald-Straße war mir wieder schwindlig. Die Enkel spielten ohne zu zetern im Zimmer am Boden mit Legosteinen. Aber in meinen Augen voller Salz vom Schwarzen und Roten Meer lagen sie auf einem Fliegenden Teppich. „Schnelle und erfolgreiche Anpassung.“ Erfreute mich das Flugblatt im Handgepäck, das ich im Bus 192 verlor. Frau Krakowska verbrachte einen ganzen Tag in der Küche. Knetete 180 Pieroggen. Mischte die Füllung. Russische. Mit Fleisch. Mit Käse. Wir aßen alle schön im kochenden Wasser schwimmenden gefüllten Pieroggen auf einen Schlag auf. Einschließlich der Gurkensuppe. Extra für mich gekocht. Wir waren 7 Erwachsene und 2 Kinder. Der Vater von Frau Krakowskas Enkeln – oder ihr Schwiegersohn – heißt Martin. Der wievielte Martin ist das in meinem Krakauer Leben? Auch die Zahlen haben sich verflüssigt. Die Enkel – die besten der Welt – glitten kampflos durch die Luft. Schwebten schwerelos. Über dem Parkett. Über den Steinplatten. Über der Küchentischplatte. Alle bewegten wir uns in der Luft von einer Stelle zur anderen. Von der Schlacht bei Grunwald zur Schlacht an der Bzura.

Mit mir stimmt etwas nicht. Ich muss von neuem die Welt sehen und ihre richtigen Bilder speichern lernen. Alles, was bisher stabil, sicher und beständig schien – fängt plötzlich an, sich zu bewegen. Rutscht ab. Rieselt weg. Ich verliere den Boden unter den Füssen. Den Fußboden unter den Beinen. Die Tischplatte unter dem Teller mit den Pieroggen und dem geschmolzenen Schweinefett. Die Treppenstufen unter den Schuhen. Den Läufer unter den nackten Sohlen. Alles unterhalb der Nase. Die Dame im Optikergeschäft sagte, ich müsste nun den Kopf mehr bewegen. Aber wenn ich den Kopf bewege, Verehrteste, dreht sich die ganze Welt. Zu meinen Füssen. In meinem Magen. Und mir wird sehr schlecht. Schon lange habe ich mich nicht mehr so elend gefühlt.

Ich war in der Polnischstunde. Ich muss von neuem lesen und schreiben lernen. Wo ist das Feld in meinen äußerst komfortabeln Gleitsichtgläsern, das mir erlaubt, einen Satz aus dem Lehrbuch zu erkennen? Hausaufgaben. Von Hand schreibe ich sehr unleserlich. Früher war ich kurzsichtig. Weder eine Seherin. Noch eine Künderin. Jetzt bin ich auf dem Weg zur Altersweitsicht. Ich besaß noch nie hellseherische Gaben. Sondern immer nur eine deutliche Sehschwäche. Vor allem am linken Auge. Das rechte erträgt alles tapfer. „Wann immer du einen Gegenstand scharf sehen willst, richte deine Nase darauf.“

Ich begab ich zu der Frau Optikerin. Die neue Brille, entworfen von Picassos Tochter, auf der Nase. Auf der Florianstraße bewege ich Kopf und Beine. Übel wird mir nicht mehr. Aber auf dem Bildschirm meines Laptops im Zimmer unter dem Dach kann ich nichts erkennen. Absolut nichts. Jammere ich. Nur verschmierte Wellen von elektrodynamischen Quantenteilchen. Klage ich. Und unter den Fingern habe ich die altmodischen Buchstaben der Tastatur. Tanzende eRs und eMs und Tes und eLs. Im Zimmer von Martin dem Älteren wohnt jetzt Lothar. Sogar im Łaski-Haus habe ich alles in Bewegung versetzt, wie während eines starken Orkans auf dem südchinesischen Meer. Die Frau Optikerin bittet seelenruhig um etwas Geduld. Und um Verständnis. Offenbar geschult an hysterischen Kundinnen. Sie haben drei Brillen in einer. Erklärt sie sachlich. Sie müssen üben. Die Augen trainieren. Das scharfe Sehen auf jede Entfernung. Die Gewandtheit der Finger auf der Tastatur. Auf dem Laptopbildschirm schäumt der Atlantik. Beschwere ich mich. Aber sie versteht mich nicht. Wenn ich jetzt den Blick von meinem Schreibtisch hebe, dann sehe ich am kalten Krakauer Himmel Flugzeuge auf dem Landeanflug nach Balice. Nie sah ich bislang auch nur ein einziges Flugzeug durch mein Dachfenster. Das kann verschiedene Gründe haben. Thermodynamische. Versuche ich mich zu beruhigen. Klimatische. Noch nie kam bislang der Wind aus Osten. Alles ist möglich. Gemäßigter Westwind. Frühestens in zwei Wochen. Sagt die Augensprecherin. Aber ich habe keine Zeit. Ich muss arbeiten. Auf diesem wütend schäumenden Atlantik. Über meinem Kopf hängt das Damoklesschwert. Der Finger von Herrn Konwicki. Sie hat weder mit Fingern etwa zu tun. Noch mit Schwertern. Nur mit Augen. Die Buchstaben unter der Haut, unter der Schläfe, unter dem Schädel spielen verrückt.

Die Polnischlehrerin klebte am Wochenende 100 Pieroggen zusammen. Für 4 Personen. In diesem Land ist der Mensch in der Küche am effektivsten. „Der Nutzer erfreut sich eines weiten und scharfen Sichtfeldes ohne jede Verzögerung“. Ich versehe nicht, was die Zeit hier zu suchen hat. Etwas stimmt mit mir nicht. Ich war im Radio. Und es stellte sich heraus, dass die Radiojournalistin einst in ihrer Jugend Probleme mit der polnischen Grammatik hatte. Das kann vorkommen. Wer hat sie nicht? Sie nahm damals Nachhilfestunden bei meiner Polnischlehrerin. Die Welt ist klein, lachte sie. Und ich kann nicht einmal diese kleingewordene Welt erkennen. Denn der Magen brennt. Wie lange nicht mehr.

Irgendetwas stimmt mit mir nicht. Die Welt stürzt mit Schmerzen über mich. Und fällt zusammen. Das Schlimmste ist der Laptopbildschirm. Und das ganze verschwörerische intellektuelle Hab und Gut. Jede Kleinigkeit läuft jetzt bereitwillig weg. Durch Hintertüren und Seitenausgänge. Wie soll ich da noch schreiben? Wie das eigene Geschriebene lesen? „Wir empfehlen Dir, der Versuchung, die alte Brille wieder aufzusetzen, standhaft zu widerstehen. Dies beschleunigt Deine Anpassung erheblich.“ Zitatende.
 
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