krakau
3.2.06
  Vogelperspektive
Vor einigen Tagen las ich in der Zeitung, dass sich an der Weichsel in Warschau einige Dutzend Seeadler eingefunden haben. Angeblich fliegen sie zwischen der Altstadt und dem Bielańskiwäldchen herum – das heißt unter den Fenstern von Grażyna, meiner bescheidenen, immer unsichtbaren Sekretärin. Ich konnte damals nicht darüber schreiben, denn im ganzen Land wurde geschwiegen. Also hielt auch ich mich daran. Außerdem sind die Seeadler in Warschau erst heute richtig von Bedeutung. Denn heute ist Grażynas Geburtstag.

„Trink, o trink aus dieser Lehte und vergiss Leonore!“ – „NIMMER!“
Krächzte da der Rabe. „Nimmer!“

Den Himmel über der Brunstrasse, neben dem Mokotówfeld verdunkeln hingegen am frühen Morgen und kurz vor Einbruch der Dämmerung ganz gewöhnliche Raben. Sie versammeln von der Innenstadt kommend hoch in der Luft, so dass die Bewohner der Brunstrasse nicht einmal mehr den Kulturpalast erkennen können. Es sind Abertausende. Allesfresser. Mit scharfen, spitzen Schnäbeln. Und lilaglänzendem pechschwarzen Gefieder. Sie kommen abends. Setzen sich zum Schlafen in die Wipfel der alten Pappeln. Und stieben in der Früh wieder auseinander. Mit widerlichem Gekrächze. Bringen die langjährigen Mieter der zehnstöckigen Plattenbauten um den verdienten Schlaf. Bald taut es. Beklagen sich die immermüden Menschen. Und der Gestank auf der Strasse wird so schrecklich sein, dass wir die Fenster nicht mehr öffnen können. Im März beginnt die Brutzeit. Schon jetzt zerfressen die Exkremente der Raben den Lack der Autokarosserien. Und hinterlassen Flecken auf den taillenengen Kostüme der Damen. Wir können keine sozialen Kontakte mehr pflegen. Keinen Besuch mehr empfangen. Sagen die Brunstrassenbewohner und gehen nur noch mit Regenschirmen oder über dem Kopf aufgespannten Zeitungen aus dem Haus.

„Frag' ich dich, du Schicksalskünder: Ist in Gilead Balsam?“ – „Nimmer!“
Krächzte da der Rabe. „Nimmer!“

Die Krakauer Stadtverwaltung bestätigt seit Jahren die etwas bedauerliche Tatsache, dass der Intelligenz der Raben in den Planty nicht beizukommen sei. Die durchschnittliche Intelligenz und Phantasie der Beamten würde leider immer an der hoch entwickelten Intelligenz der Vögel scheitern. Auch die Hoffnung der Warschauer Brunstrassenbewohner auf Raubvögel wie Habichte oder Falken, welche die Raben endgültig aus ihrer Strasse vertreiben könnten, erweist sich als nichtig. In Krakau weiß man bereits, dass Raben, wenn sie einen Falken sichten, sich mit dem abscheulichsten Gekrächze in die Baumkronen zurückziehen. Darauf sind Falken nicht vorbereitet und erstarren vor Schreck. Deshalb hat man die herzlahmen Raubvögel nun auf den Wawel geschickt, wo sie in Frieden Spatzen jagen. In den Planty hat man hingegen angefangen, Rabennester herunterzuholen. Und zu zerstören. Damit wurde die Anzahl leicht dezimiert. Übrig blieben degenerierte, gefühlsentleerte Rabenfamilien. Die sich sogar in die letztes Frühjahr eingesetzten Schnellschusskanonen verliebten. Mit ausgelassenem Gekrächze begrüßten sie die auf Traktoren anfahrenden Kanoniere.

„Sag' mir, find ich nach dem trüben Erdenwallen einst dort drüben
Sie, die von dem Engelschore wird geheißen Leonore?
Werd' ich sie dort einst umarmen, meine Leonore?“ – „Nimmer”,
Krächzte da der Rabe. „Nimmer!”

Steinadler bewohnen Felsen und Wälder in Europa, Asien und Amerika. In Polen kommen sie selten vor. Die hellen Seeadler besiedeln vor allem die Strände Nordeurasiens. Sie meiden grundsätzlich Menschen, aber zum heutigen Tag haben sie sich mit ihren weißen Schwänzen vor den Fenstern des Geburtstagskindes eingefunden. Sie stehen unter Artenschutz, also kann ihnen in der Hauptstadt nichts passieren. Sie sitzen seelenruhig auf den Eisschollen unter der Śląsko-Dąbrowski-Brücke und jagen Enten und Fische. Nur hier finden sie offene Wasserstellen im zugefrorenen Fluss.
 
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