krakau
19.3.06
  Sonntag, Stelldichein mit Sekretärin
Meine an sich unsichtbare Sekretärin besuchte mich heute in Krakau. Und sofort trat die Sonne am Himmel aus den Wolken.

Meine an sich abwesende Sekretärin weiß alles über mich. Sie weiß, dass etwas in meinem Kopf arbeitet. So wie um acht Uhr morgens etwas in meinem Laptop arbeitet. Wenn sich AntiVir einschaltet. Und die ganze Festplatte absucht. Ohne dass ich zu wissen brauche, womit und zu welchem Zweck. Es arbeitet. Hart. Während einer knappen Viertelstunde. Und stört meine Fingerspitzen in äußerst geringem Masse. Die Programme reagieren etwas langsamer. Aber es wird gearbeitet. Hier und dort. Im Vordergrund. Im Hintergrund. Im vierten Grund. Und im Siebten Himmel. Irgendwo, in einer virtuellen Arbeitsstube. Das AntiVir aktualisiert sich sogar selbst. Im neunten Feld. In der fünfhundertneunten Zelle ...

Ja. In meinem Kopf arbeitet es unaufhörlich. Ohne dass ich weiß, was, womit und zu welchem Zweck. Nur meine Sekretärin weiß. Alles. Über mich und meinen Kopf. Ich kann also ruhig schlafen.

Ein halbes Jahr lang habe ich fast gar nicht geträumt. Ich schlief in Krakau. Im Zimmer mit der Nummer 22. Unter dem Dach des Łaski-Hauses. Nie träumte ich. Ich sah keine bunten Landschaften. Verweilte auf keiner menschenleeren Insel. Focht keine Streitigkeiten mit der Schweizer Familie aus. Nein. Nichts. Nichts störte. Ich schlief. Einen flachen Schlaf. Einen unaufgeregten Schlaf. Geradeaus. Wie die Fahrt mit dem Berlin-Warschau-Express. Unspektakulär. Wie der Märkische Sand. Es störte nichts. Weder die Alpen über Splügen. Noch der Atlantik vor Madeira. Die Nacht in Krakau ist stocktaub. Aber seit die Pinguine abgereist sind, finde ich keine Ruhe mehr. Kann ich mit niemandem mehr schlafen. Ich habe ein Doppelbett. Ich habe sogar zwei Doppelbetten. Frau Polka und Herr Tango krochen meist unter die eine Decke. Und ich unter die andere. Jetzt schlafen sie im Zelt unter dem Bergahorn. In Brandenburg. Und atmen regelmäßig frische Waldluft. Mich wecken im Morgengrauen Tränen. In der Früh dringen aufbrausende Abschiedsträume in meinen Schlaf. Intensive Startbahnsituationen. Internetverbindungen. Der Widerhall von Wolfgangs Atem über skype. In der Nacht setze ich den Kopfhörer auf. Und die erbosten Wellen des Indischen Ozeans schlagen an meine grauen Zellen. Meeresbrandung im Hirn. Ich hasse Abhöranlagen. Deshalb benütze ich in Polen das Mobiltelefon von Dorota. Ich schlafe und es klingelt. Es klingelt und ich schlafe. Mit offenen Ohren. Über denen das Head-set liegt. Mit schlaftrunkenen Fingerspitzen. Taste ich die Liste der Verbindungen auf dem kleinen Bildschirm ab. Und nehme an, dass ich die Nummer von Martin wähle. Egal, von welchem. Es ist kein einziger mehr da. Nacht. Stocktaub. Martins Stimme rauscht augenblicklich in meinem Kopf. Wie Fruchtwein. Die Stirn platzt. Von der Arbeit. In Grund und Boden. Martin begrüßt mich überschwänglich. Er kann nicht wissen, wer ich bin. Und schon fällt die Dämmerung ein. Ein Schweigen wie im Grab. Eine Stille wie im Cenotaf von Hiroshima. Ich sehe kein einziges Wort mehr. Die Sonne geht um 5:42 auf. Ich breche in Weinen aus. Schüttelfrost. Schulterzucken. Und ich wache auf. Und ich wundere mich. Ob das ein Traum war. Oder das Echo aus der Küche.

Meine immer diskrete Sekretärin wacht über meine ungezügelten Wörter. Manchmal setze ich sie zu Sätzen zusammen, die niemand verstehen kann. Nirgends. Niemals. Bis ans Ende der Welt. Nicht. Nur sie, meine einzige Sekretärin, versteht. Und ordnet. Und beruhigt. Im Kopf arbeitet immer etwas. Irgendein Programm wählt sich immer ein. Und ruft. Selbständig. Gedanken hervor. Bei Konwicki heißt so ein Tag „Montag, Stelldichein mit Kater Iwan“. Bei mir ist alles anders.

Meine Sekretärin hat Tag und Nacht Dienst. Oft raube ich ihr den Schlaf. Mit meinen Wörtern. Sie kam heute nach Krakau. Und sofort trat die Sonne aus den Wolken. Am Himmel.
 
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