krakau
8.3.06
  Ein Tag, wie bei der Schneiderin
Ich habe keine Zeit. Aber im Schrank liegen einige Meter Naturseide erster Qualität. In tiefstem Rot. Ein Stück. Von mindestens sechs Metern Länge (die Schneiderin weiß es genau, denn sie nahm Maß). Und ein anderes, etwas kürzer, vielleicht nur viereinhalb Meter lang, und in einem leicht blässlichen Altrosa. Fast wie Kinderwangen im Winter.

Ich habe absolut keine Zeit mehr. So scheint es mir. Aber mit diesem Stoff, dem Weihnachtsgeschenk meines Sinologen, muss schließlich etwas geschehen. Ich kann damit nichts anfangen. Also begab ich mich damit zur Schneiderin. Das heißt, wir trafen uns im Café an der Krupnicza-Straße. Sie schlug mir verschiedene Schnitte vor. Eine Schneiderin weiß alles, kaum berührt sie den Stoff, weiß sie schon, sieht und spürt den Geruch der Frühlingssonne auf der nackten Haut. Ärmel? Wozu Ärmel? Sie nahm Maß von verschiedenen Teilen meines Körpers. Im Café Libelle saß gerade niemand. Von denen ich bisher gar nicht wusste, dass es sie gibt. An mir. Die Libelle ist ein normalerweise grell gefärbtes Insekt. Besitzt zwei durchsichtige Membranflügelpaare. Fest wie meine Engelinnen. Und lebt auf dem Wasser. Sie notierte sich alles mit seltsamen Abkürzungen. Mit irgendwelchen Buchstaben. Mit einem roten Kugelschreiber. Hier A, und dort B. Hier Länge, dort Breite. Und dann noch Taillienumfang. Kopfumfang. Nein, einen Hut näht sie mir nicht. Und Brustkorb. Herz. Lunge. Brustbein und Rippen. Zwerchfell. Atmen muss ich. Mit oder ohne Naturseide.

Ich habe keine Zeit. Ich wusste nicht, was sich rund um meinen Hals so alles tut. So eine Naht, oder eine andere. Flach oder aufgetrennt. Der Kragen. Weich oder Steif. Stehend oder liegend. Weiß. Oder in der Farbe. Der Naturseide. Verschlüsse. Eclair. Oder Knöpfe. Auch in der Farbe. Der Bauch ist flach. Oder aufgebläht. Vielleicht nehme ich doch in der nächsten Zeit noch etwas zu. Immer nach fünf singen jetzt die Vögel im Park. Sie sind Lichtempfindlich. Nicht Temperaturempfindlich. Und der Baum vor meinem Fenster reckt schon seit langem Knospen in den Himmel. Dicke. Satte. Feuchte. Die gleich aufplatzen. Vor Lust.

Ich habe wirklich keine Zeit mehr. Bei Konwicki heißt so ein Tag „Donnerstag, wie der Besuch beim Zahnarzt“. Bei mir heißt er anders. Ich muss mich vor Nachäffereien hüten. Aber ich bin in meinem Element.

Ich habe keine Zeit. Den Stoff, die Naturseide bester Qualität, übergab ich der Schneiderin zu getreuen und geübten Händen. Sie, kaum berührt sie ihn, weiß bereits alles. Und ich sitze stundenlang, wochenlang, jahrelang. Und weiß noch immer nichts.
 
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