krakau
10.3.06
  Ein Tag, wie bei der Frisöse
Die Zeit vergeht im Fluge. Bereits 147 Monate. Seit der Eheschließung mit dem Allerbesten Deutschen. Bereits 147 Monde. Ich begab mich tapfer zu Jola. Trotz Hundewetter. Es goss aus Kübeln. Vom Himmel. Und unter den Füßen schmolz der Schnee. Ich schwamm durch die Lange Straße zu Jola.

Wie die Zeit vergeht. So einen Frisörsalon habe ich meiner Lebtag noch nicht gesehen. Hand aufs Herz. Am Freitagnachmittag. Sitzt dort eine Handvoll nicht mehr ganz frischer Frisörinnen herum und stiert. Gelangweilt. Mit trübem Blick. Fast wie in Warschau. Bei Konwicki. Jede ungekämmte Person an, die hereinkommt. Nur für Jolas Stuhl muss Frau anstehen. Die Kundinnen werden nicht auf Zeit bestellt. Bitte setzen Sie sich und warten. Ich dachte, ich sei zu spät. Und entschuldigte mich. Ach wo. Hier gibt es keine Stundenanzeiger. Die anderen toupieren sich gegenseitig. Mit einem entsetzlich laut heulenden Fön. Und einer Bürste. Das einheitlich blondierte dünne Haar. Ich bin stolz, dass es mir gelungen ist, die Haare nicht mehr zu färben. Während dieses Krakauer Winters. Die neue Brille habe ich speziell zu meinen mit Schnee bestäubten Schläfen ausgesucht. Die Poesie welkender Jahre.

Wie doch die Zeit vergeht. Die Frau vom Verlag sagt, sie warte auf den Text. Und ich zaudere. Warte auf Wörter. Ohne Wörter kein Text. Ohne Inspiration keine Wörter. In der „Prowincja” warte ich auf Kasia. Wir stellen das Programm für kommenden Dienstag zusammen. Blättern in den Postkarten. Auf der Suche nach den richtigen Wörtern. In der Nacht staubt es vom Himmel. Oder von der Zimmerdecke. Unter dem Dach. Wunderliche Erinnerungen an Basel. Es ist wie immer. Ich gerate in helle Aufregung. Weil Kasia mich doch tatsächlich vor allen Leuten fragen will, wo ich mich zu Hause fühle. Und wenn ich sage, wahrheitsgemäß – Hand aufs Herz! (wie dumm und aufrichtig ich Schweizerin immer noch bin) – dass, na ja, „hier“ natürlich … dann wird dieses winzige, unschuldige Wort „hier“ von einem eisigen Gebirgsbachwasserfall nicht enden wollender weiterer Fragen überschüttet, aber warum, und wozu, und was ist eigentlich, und überhaupt, was soll denn …

Wie die Zeit vergeht. Schon 147 Monate. Der Allerbeste Deutsche jagt über die Internationale Tourismus Börse in Berlin. Ich jage durch mein erstes Kapitel. Überarbeite gehorsam. Bin verzweifelt. Ich verfasste es im Amok – und kann mich jetzt an nichts mehr erinnern. Woher kommen diese schönen mit Schnee bestäubten Gedanken? Aus dem Spiegel im Frisörsalon.

Die Zeit vergeht im Fluge. Jola spricht so schnell, dass ich kaum ein Wort verstehe. Sie lobt mein Haar. Und knipst mit den Scheren, rechts und links, dass ich weggucken muss. Aus dem Spiegel. Bei Konwicki heißt so ein Tag „Donnerstag, Feierlichkeiten zum fünfundzwanzigsten Jahrestag“. Bei uns heißt er anders. Wir müssen uns an die Monate halten. An die Monde. Um irgendwelche Jahresringe zu erklimmen. Brillantene. Hölzerne. Aus Stahlbeton. Wir hüten uns vor Nachäffereien. Bald ist Vollmond.
 
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