krakau
14.3.06
  Postkarten aus Berlin
Hiermit lade ich herzlich ein zu meiner Abschiedslesung in Krakau sowie zur Vorstellung meines Buches, das in Kürze erscheinen wird:
Pocztówki z Berlina (in polnischer Sprache)
Moderation: Katarzyna Fortuna
Dienstag, 14 März 2006, 18.00 Uhr
Goethe-Institut
Rynek główny 20, Kraków
Die Veranstaltung findet in polnischer Sprache statt

© Hildegard Skowasch - Das Zimmer des Schriftstellers
-----

Textauszug:

… Mein erweitertes und leidenschaftliches Polen: es reicht jetzt bis nach Berlin. Bis ins innerste Mark. In den Bezirk Mitte. (…) Ich steuere auf die Installation von Hildegard S. zu. Auf die Raumkomposition, wie Kenner das nennen. Schwarzweiß. In der Ecke steht ein Tisch, ein weißer, aus Papier mit ... – und hier werden meine Knie weich. Ich spüre eine seltsame Kraftlosigkeit in den Muskeln, die unerwartete Oktoberhitze hat sie geschwächt. Ich sinke. Einfach unter den Zungenbrechertisch mit den wackligen Beinen! Stół z powyłamywanymi nogami. An der Wöhlertstraße in Berlin! An dieser unscheinbaren Straße, die nach einem unscheinbaren Industriellen des 19. Jahrhunderts benannt ist, Herrn Wöhlert, der hier einst seine Eisengießerei besaß. (…) Ich erhebe mich mit Mühe und schaue mich um. Begrüße Hildegard und entschuldige mich, dass ich unter der Tür über meine eigenen Füße gestolpert sei. Wie hätte ich ihr erklären können, dass der Papiertisch mich aus den Latschen gekippt hat? Dass ich einen Moment leichter Geistesverwirrung erlebte. Eine kurzanhaltende Blendung. Ruhig betrachte ich den Rest des installierten Zimmers. Am Boden, nicht weit vom Tisch entfernt, liegt ein unförmiger Klumpen, auch aus weißem Papier, auch ultraleicht und unzerstörbar, mit einem Haken – falls ihn jemand an die Wand hängen möchte – und umschlungen von einem schwarzen Wortfluss „undundundundund...”. Unsymmetrisch. Deutsch. An den Wänden hängen Gitterflächen. Von Hand ungeometrisch ausgeschnitten aus einem riesigen Stück grauem Filz. Farblich passend zum schmutzigen Fußbodenbelag. An der Wand gewinnt der stumpfe Filz Kristallstruktur. Wie der zugezogene Himmel. Der Tiefe gewinnt. Konvexität. Mehrdimensionalität. Entgegen allem Anschein. Das Netz bildet einen Raum. Auf die unteren Fensterteile klebte Hildegard identische Gitter. Aber weiße. Aus Papier. Und auf den oberen Teilen der dreiflügeligen Fenster brachte sie einzelne Papierbuchstaben an: U und N und D. Auf jeder Öffnung ein Buchstabe. Die, in den Augen der Passanten auf der Straße des Herrn Eisengießers Wöhlert, ein riesiges UND bilden.
„Wir befinden uns im Zimmer des Schriftstellers”, sagt Hildegard, die keine Schriftstellerin ist.
Ich schaue mich wieder um. Ich befinde mich in einem Raum, der von unregelmäßig miteinander verflochtenen Linien aus brennbarem Material abgeschlossenen wird. Und vollgestopft ist mit nur dem einen Wort: „und”.
„Und”, erläutert Hildegard, die keine Polin ist, „ist das wichtigste Wort. Die Verbindung von Gedanken. Kettenglied der Ereignisse. Zusammenschluss von Figuren. Baustoff der Welt.“
Ich wundere mich, warum der Tisch steht. Warum er sich auf den eigenen wackligen Beinen hält.
„Im Innern befindet sich ein Gerüst”, führt Hildegard bereitwillig aus, „ein Geflecht aus dünnem Draht. Ausgestopft mit Berliner Tageszeitungen. Dies verleiht der Konstruktion entschieden mehr Halt. Um dieses Gerüst klebe ich mehrere Schichten Papier, so viele wie der Tisch braucht. Hier wird uns beiden viel Geduld abgenötigt, denn jede Papierschicht muss zuerst richtig austrocknen, bevor ich die nächste darüber kleben kann. Das Papier und die klebrige Mehlmasse. Trocken wie Hobelspäne. Ohne einen Rest von Flüssigkeit. Machen den Tisch aus. Verleihen ihm schließlich, nach vielen untätigen und von Gedanken losgelösten Momenten des Wartens, Standfestigkeit. Kraft. Halt. Ansonsten würde alles in sich zusammenbrechen. Auf der Stelle.”
„Heißt das, dass die Stabilität eine Frage der Zeit ist?”
„In gewissem Sinne ja!”

© Judith Arlt
Auszug aus der Postkarte „Der Zungenbrechertisch”
 
Comments: Kommentar veröffentlichen

<< Home

ARCHIVES
Oktober 2005 / November 2005 / Dezember 2005 / Januar 2006 / Februar 2006 / März 2006 /


Powered by Blogger