krakau
28.10.05
  Martin
Plötzlich tritt ein Martin nach dem anderen in mein Leben.

Letzte Woche, als ich morgens auf den Bus wartete, hing ein rosa Flugblatt an der Wand hinter der Bushaltestelle. Etwas schief. Mit gelbem Klebstreifen angebracht. Aber deutlich lesbar. Dass man sich ab sofort im Kulturklub Wola an der Königin Jadwiga-Straße 215 zu Chen Tai Ji Chuan-Kursen einschreiben könne. Ich stand ja auf der Königin Jadwiga-Straße. Und fühlte die bittere Morgenluft auf der Brust. Ich hatte aber keine Ahnung, auf welcher Höhe, unter welcher Nummer. Ich mich gerade befand. Eine Bushaltestelle ist kein Haus. Obwohl der Mensch da mittlerweile auch ein Dach über dem Kopf und eine Holzbank unter dem Hintern hat. Das Haltestellenhäuschen hingegen besitzt keine Hausnummer. Und dann erblickte ich plötzlich zum ersten Mal – wie oft wartete ich hier bereits auf den Bus? – auf der anderen Straßenseite zwei goldene Täfelchen mit den Nummern 211 und 209. Also kann die 215 nicht allzu weit entfernt sein. Ein Bus unterbrach meine numerologischen Betrachtungen. Überfüllt, schon zu dieser frühen Stunde, schwankte der 192-er vom Flughafen an den Straßenrand. Hielt einen Moment inne und nahm uns alle mit. Keuchte schwer und fuhr wieder los. Schon zu dieser frühen Stunde.

Am Abend ging ich mich erkundigen. Der Kulturklub öffnet erst um 15:00 Uhr. Ob ich zu einer Probestunde kommen könne. Und mich danach entscheiden. Ob ich mich für den Kurs einschreibe oder nicht. Japan hat mich Vorsicht gelehrt. In allen Lebensbereichen. Nicht nur in Bezug auf Tai Chi. Und man sagte mir, dass Martin das „Training“ leite, ein erfahrener Lehrer. Dienstags und donnerstags.

Ein ganz anderer Martin übersetzt einen Auszug meines Japanischen Tagebuchs ins Englische. Diese Notwendigkeit ergab sich hier plötzlich.

Und mein Bruder, auch Martin – hat heute Geburtstag. Er ist älter als ich, also kenne ich ihn, seit ich auf der Welt bin. Er vollendet genau in dieser Stunde, in diesem Moment sein erstes halbes Jahrhundert.

Gestern ging ich mutig zu dem mir bislang unbekannten Martin. Ich durchquerte den Park unter der Villa mit schnellen Schritten, denn es ist dunkel überall, dunkel überall. Und schon war ich da. Im ersten Stock des kleinen Landhauses. Etwas oberhalb der Haltestelle „Sielanka“ [Das (Dorf-)Idyll]. Unten spielte jemand Klavier. Ansonsten war es wohltuend still. Ich atmete auf. In Berlin versammeln sich die wunderlichsten Leute zum Tai Chi. Hauptsächlich fortgeschrittenen oder mittleren Alters. Die auf der Suche nach irgendetwas sind für ihre zweite, bessere Lebenshälfte. Ich weiß es selber nicht. Wonach wir alle suchen. Schauspieler. Musiker. Künstler. Tänzer. Schriftsteller. Journalisten. Lehrer (außer für Rockmusik, Blockflöte, Posaune oder Klavier auch für Mathematik und Chemie). Verleger. Fotografen. Und eine Richterin. Sie ist vielleicht die normalste von uns allen. An der Königin Jadwiga-Straße ist alles anders. Es kamen zwei Jungs. Einer mit einem langen, wunderschönen dunkelbraunen Zopf – ein schüchterner, etwas gehemmter Teenager, aber sehr aufmerksam. Der andere deutlich jünger. Rundlich. Ungeduldig. Ausgelassen. Sie haben schon drei sogenannte Trainingsstunden hinter sich. Das heißt, sie sind Anfänger. Und ich bin von der ersten Stunde an im Rückstand. Und die Älteste.

Das warme Gefühl blieb noch lange in den Knien, nachdem ich den dunklen Park wieder durchquert hatte. Lange hieß uns Martin nur stehen. In den ersten Qi gong-Stellungen. Der dicke Junge hielt das nicht aus. Aber er klagte nicht. Weinte nicht. Begehrte nicht auf. Martin berichtigte vorsichtig unsere Körperhaltungen. Richtete das Rückgrat gerade. Die Arme. Die Schultern. Die Hüften. Das Becken. Loslassen. Loslassen. Alles loslassen. Ich lerne bei der Gelegenheit die Wörter für jeden Körperteil. Die Form beginnt mit einem Schritt nach links. Ich war sprachlos. In Berlin geht der erste Schritt nach rechts. Nach Osten. Aber spielt es eine Rolle? Die verschiedenen Meister haben die Welt in verschiedene Zonen eingeteilt. Und damit ungesunde Rivalitäten im Kampf um die beschränkte Anzahl von Kunden unterbunden. Und so machen wir gehorsam den ersten Schritt nach links. Oder nach rechts. Um niemandem auf die Füße zu treten.

In diesem Land. Bin ich überall die Älteste. Im Bus. Auf der Straße. Im Kino. Auf dem Weg nach Hause. In der Villa. Im Theater. Im ersten Stock. In der Kneipe „der achte Tag der Woche”. Bei der Lesung mit dem diesjährigen Nike-Preisträger. Auf der Buchmesse. Auf dem Fahrrad. An der Rudawa. An der Weichsel. In der Straßenbahn. Unter dem Wawel. Bei Polakowski.

Jetzt warte ich auf den vierten Martin. Den neuesten Stipendiaten in der Villa. Er wird mich erlösen. Denn er ist älter als mein Bruder. Schon in wenigen Tagen oder wenigen Stunden.
 
Comments: Kommentar veröffentlichen

<< Home

ARCHIVES
Oktober 2005 / November 2005 / Dezember 2005 / Januar 2006 / Februar 2006 / März 2006 /


Powered by Blogger