krakau
14.10.05
  Niedzica
Herr Krakowski rief an, als ich im EMPiK* stand, im Erdgeschoss, in der Abteilung Ausländische Presserzeugnisse, neben der Kasse.
„Fährst du mit nach Niedzica?” fragte er.
Typisch Herr Krakowski!

Freitag, halb fünf nachmittags, dichter Sprühregen über die Stadt, und ich bin verabredet mit einem Menschen, den ich noch nie im Leben gesehen habe. Ich kenne nur seinen Namen: Ernst. Herr Ernst verspätet sich offenbar. Aber das ist normal in diesem Land. Sogar unter Ausländern. Wir akklimatisieren uns schnell. Ich bin verabredet mit Herrn Ernst. Aus Rücksicht auf das Wetter im Erdgeschoss von EMPiK und nicht vor der Marienkirche. In der Abteilung Ausländische Presserzeugnisse. Wo immer ein furchtbares Gedränge herrscht. Neben der Kasse. Wo die Leute dicht hintereinander anstehen. Ich fühle mich hier nicht wohl. Lesen mag ich nicht. Weder den Spiegel, noch den Stern. Es gibt eine sogenannte goldene Regel (meine eigenen Erfahrungen haben sie aufgestellt): wartest du am Bahnhof auf eine bekannte oder unbekannte Person, dann setzt dich nie auf eine Bank! In der Menge wird man dich weder finden noch erkennen. Warten ist keine passive Tätigkeit. Sondern eine aktive. Ein sitzender Mensch sieht nicht danach aus, als würde er etwas oder jemanden erwarten. Ein sitzender Mensch weiß meistens nicht, was mit sich selbst und der dazu gewonnenen Zeit anfangen. Am Bahnhof. Während er auf den Zug wartet, der eineinhalb Stunden verspätet eintrifft. Zum Beispiel. Übertragen wir das Muster des Wartens vom Bahnhof auf die Abteilung Ausländische Presseerzeugnisse im Krakauer EMPiK: versinke nicht in einem Text! Hinter den Zeitungsseiten wirst du unsichtbar. Unbemerkbar. Hörst sofort auf zu existieren. Am Bahnhof gelingt das Warten entschieden besser. Denn dort gehört es hin. Im EMPiK hingegen, am Freitagnachmittag, während es draußen nieselt, wirkt das Warten – und dazu noch auf Herrn Ernst – in vielerlei Hinsicht verdächtig. Nicht nur, dass ich andauernd jemanden anremple, stoße, berühre, andauernd jemandem den Griff zur Zeitung oder zum Geldbeutel versperre. Sondern der Sicherheitsdienst. Beobachtet mich mit scharfen Blicken. Registriert genau jede meiner Bewegungen. Jeden meiner unsicheren Schritte. Und sieht, dass ich weder lese noch kaufe. Nur schaue. Beobachte. Rund herum. Das ist schließlich seine Aufgabe, nicht meine! Mein Mobiltelefon meldet sich. Der Mann vom Dienst hört mit, ohne Anstrengung. Jedes Wort.

„Ich stehe hier und warte auf jemanden, den ich nicht kenne. Im Ernst.”
„Ohohooo!”, grinst Herr Krakowski in meinem linken Ohr. Weit und Breit.
„Was für eine Überraschung …”
„Wir wussten selber nicht, ob ...“
„Kein Problem. Nur ...
„Es geht auch später. Um Mitternacht.”
„... ich muss ihn zuerst treffen. Erkennen. Im Ernst. Herrn Ernst. Ich ruf dich in einer Stunde zurück.“
„Okey.”

Natürlich fuhr ich mit. Mit Herrn Krakowski und Frau Krakowska.
Sie holten mich in der Villa ab nach acht. Und ab ging’s nach Niedzica.

Fortsetzung folgt

* EMPiK = größte Buchhandelskette in Polen
 
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