krakau
21.10.05
  Polnischstunde
Heute früh um neun hatte ich die erste Polnischstunde – die erste seit sicher zwanzig Jahren! Wann genau ich aufhörte, Stunden zu nehmen und einen Lehrer zu haben, weiß ich nicht mehr. Auch nicht, wann genau ich anfing. Vielleicht 81 oder 82. Sass ich im Kurs von Felek. In einem stickigen Vorlesungssaal der Universität Basel. Ich verstand nichts. Überhaupt nichts. Felek schrieb uns stundenlang Ausnahmen an die Tafel. Und ließ sie uns abschreiben, Ins Heft. In den Kopf. Ins Gedächtnis. Damals gab es noch nicht einmal Computer. Die Augen brannten. Von solchen und anderen Ausnahmen. Der Hals brannte. Von Zisch- und anderen Lauten. Felek war stolz (und ist es wahrscheinlich immer noch), dass er mehr Ausnahmen kannte als die Polen selbst. Felek verdanke ich viele Dinge in meinem Leben. Wirklich. Aber nicht meine polnischen Sprachkenntnisse. Felek verdanke ich fast alles, mit Ausnahme der Sprache. Felek schickte damals uns alle, die sich mit der Absicht trugen, nach Polen zu fahren, für längere oder kürzere Zeit, zu den Krakowskis in Krakau. Und so klopfte auch ich eines Tages zum ersten Mal an die Tür an jener und keiner anderen Straße in Krakau und behauptete in gebrochenem Polnisch, dass mich Felek schicke … Und das genügte. Für alles und für immer. Seit Oktober 83 studierte ich in Warschau. Ja. Und besuchte regelmäßig die Kurse am Polonicum. Bei einem Mann, dessen Gesicht ich deutlich vor mir sehe, dessen Name sich aber nicht mehr verbalisieren will. Sprachkurse für Ausländer. Damals brachte ich kaum einen Satz über die Lippen. Ich kam am Namenstag von Tadeusz in Warschau an. Das wusste ich damals so wenig wie alle anderen Dinge. Nach 85 hatte ich bestimmt nie wieder einen Lehrer, noch eine Stunde – bis heute früh um neun Uhr. Mathematisch gesehen, heißt das, dass ich zwei, drei, höchstens vier Jahre Polnisch lernte. Und ich habe die Frechheit, zu schreiben. In dieser Sprache.

In der Nacht träumte ich zum ersten Mal. Die Engelin wachte, wie immer. Unter dem Dach. Mit der vollen Gießkanne in der linken Hand. Seit ich hier bin, habe ich einen leichten Schlaf. Locker wie frischer Schnee. Betäubend wie Watte. Farblos. Ohne Alltäglichkeiten. Ohne Verletzung, Hysterie, Neid, Aggression. Heute wachte ich auf und wusste sofort, dass ich zum ersten Mal geräumt hatte, dass es mich gibt. Der Traum präsentierte mir ein deutliches Bild aus den ersten Tagen, als ob dies das wichtigste Moment meines Krakauer Lebens wäre, und brachte darüber hinaus alle Gefühle, Welten und Zeiten durcheinander.

Jetzt lerne ich. Alles, ich nicht Felek verdanke. Im vorletzten (polnischen) Blogeintrag sollte ich vielleicht das Wort „ochronę” durch „borowiki” ersetzen. Aber wer weiß, ob das nicht wieder anders herum unkorrekt ist. Und irgendwann in der Zukunft werde ich mich der unübersetzbaren Poetik von „powsinoga“ oder „drapichrust“ annehmen müssen.
 
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