krakau
26.11.05
  Ein wundervoller Wintertag
Ein wundervoller Wintertag ist vorüber. In Kwiatonowice. Stahlblauer Himmel. Scharfe Kontraste. Am Horizont. Gute Sicht. In der Luft. Sonne. Auf den Feldern. Schnee. Ich konnte das alles sehen, ohne aus dem Bett zu steigen. Kasper brachte mir in der Früh Kaffee. Ans Bett natürlich. Dann fuhren sie in die Stadt. Zur Arbeit. Und ich blieb den ganzen Vormittag allein. Ich liebe das Ausleiern der Zeit. Das lange Stummsein. Ohne aus dem Bett steigen zu müssen.

Ein wundervoller Wintertag. Am Nachmittag Lesung in der Schule. Umso segensreicher erwies sich die morgendliche Stille im Gutshaus. Das Schulgebäude stand zu Zeiten von Lina Bögli noch nicht. So wie andere Überbauungen im Dorf. Sie hätte sich gefreut über die Präsentation zweiter Schülerinnen der zweiten Klasse. Um drei Uhr nachmittags. Der noch hellen Stunde. An einem wundervollen Wintertag.

Ich erinnere mich – das habe ich sogar gestern den Kwiatonowicern erzählt – dass Lina B. fast ein halbes Jahrhundert lang Tagebuch führte. Tag für Tag. Sie schrieb sogar dann, wenn sie nichts zu schreiben hatte. Zum Beispiel: „Nichts zu sagen.“ Oder: „Dasselbe wie gestern.“ (Und gestern konnte „Ich habe nichts zu sagen!“ gewesen sein). Kunstgriffe fast wie bei Gombrowicz. Abgesehen davon verlief ihr Leben nach der Rückkehr in die Schweiz, sozusagen nach ihrer „Pensionierung” in sehr geregelten Bahnen. Routiniert. Ja fast ritualisiert. Tägliche Spaziergänge. Tägliche Englischstunden. Tägliche Mahlzeiten. Sie aß mit dem Besteck des Königs Kalakaua, das sie geschenkt bekommen hatte zum Abschied von Honolulu. Tägliche Notizen. Je älter sie wurde, desto mehr achtete sie auf die Ordnung eines jeden Tages. Eines jeden Jahres.

Ich bin auch verrückt. Da gibt es nichts zu beschönigen. Nach dem Tod von Lina Bögli erschien eine bescheidene Erinnerung an sie. Ein auf Buchseiten zerdehnter Lebenslauf. Von ihrer Freundin Amy Moser. Amy Moser schrieb als erste, was nachher alle getreulich abschrieben, dass Lina Bögli, als sie im Gasthaus „Kreuz” in Herzogenbuchsee wohnte, die Miete für das Eckzimmer im zweiten Stock jeweils „im voraus für 12 Jahre“ bezahlte, um nicht mehr daran denken zu müssen. Ich bin auch Schweizerin. Und ich überlege mir, wie oft sie im voraus für 12 Jahre ihre Miete bezahlen konnte, wenn sie 27 Jahre im „Kreuz” wohnte? Irgendwie geht das nicht auf. Außerdem konnte sie ja nicht zum voraus wissen, wie viele Jahre ihr vergönnt sein würden. Unter diesem Kreuz.
Also setzte ich mich an den Computer und öffnete ihre Tagebücher, die ich vor zwei Jahren gescannt hatte. Ich besitze fast 5000 bitmaps – das heißt elektronische Abbildungen jeder handschriftlichen Seite. Ich überflog von 1915 bis 1940 alle Feiertage, Weihnachtsfeiertage, Silvester- und Neujahrstage. Und schnell erwies sich, dass sie nicht für 12 Jahre die Miete bezahlte, sondern für 12 Monate. Jeweils 300 Franken. Eine Kleinigkeit. Ein Versehen in der Zeit. Wichtiger ist, dass ich bei dieser Gelegenheit entdeckte, dass sie immer an Silvester das zu Ende gehende Jahr mit fast identischen Worten verabschiedete: „Also adieu, du liebes altes Jahr, Tausend dank für alles, was du mir gebracht!“ (31.12.1919 u.a.). So war es immer. Fünfundzwanzig Jahre lang. Bis zum Dezember 1940. Das letzte Tagebuch endet mit dem Eintrag am 28. Dezember 1940: „Es ist ein wundervoller Wintertag; aber mir geht es nicht besser.“ Und danach kommt nichts mehr. Nur Leere. Die schmerzt. Jedesmal, wenn sie sich von neuem öffnet. Auf dem Bildschirm meines Computers. In meinem Gedächtnis. Vor meinem Augen in Kwiatonowice. Weiter nichts. Sie hatte keine Kraft mehr, das alte Jahr mit dem gewohnten Dank zu verabschieden. Es fehlten ihr nur drei Tage. Zwei Tage zuvor, am 26. Dezember hatte sie notiert: „Natürlich fühle ich mich nicht wohler; und jetzt bin ich noch ganz blind am linken Auge. Alles geht dem Ende entgegen!“
Sie lebte noch fast ein Jahr. Aber die Tage wurden nicht mehr hell. Die Stille zerdehnte die Zeit. Sie starb am Tag der Wintersonnenwende, am 22. Dezember 1941. Ein wundervoller Wintertag ist vorüber.
 
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