krakau
17.11.05
  Lendenwirbel
Ich schreibe seit dem frühen Morgen. In einer Sprache. Und übersetze. In die andere. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Irgendwo zwischen Himmel und Erde. Heute fielen die ersten vorsichtigen Schneeflocken. Diesmal war es mir, als ob die Sprache immer schärfere Kanten bekäme, immer schmerzhafter werde, je weiter ich nach Westen und Süden vorstoße. Bereits in Berlin stach mir das Deutsch spitz in die Ohren. Und dann in Basel, im Trämli nach Allschwil, der Basler Dialekt – angeblich von allen Schweizer Dialekten dem sogenannten Hochdeutschen am nächsten – einfach nicht auszuhalten. Wie sehnte ich mich nach meinem leeren Zimmer unter dem Dach in Krakau. Gestern tranken wir dann noch bis spät in der Nacht scharfen ukrainischen Honigwodka. Spülten damit den Barszcz hinunter. Alle hielten tapfer mit. In der Küche des Łaski-Hauses. Beim Entgiften der Eindrücke von der Reise. Beim Auflösen der ineinander verkeilten Sprachen. Beim Lockern der Beinmuskulatur.

Letzte Woche sagte uns Martin beim Tai Chi, wir sollten uns nicht auf die Bewegungen des Körpers konzentrieren. Nicht auf die Finger gucken, nicht auf die Hände, nicht auf die Unterarme. Nein. Wir sollten uns konzentrieren auf das Fließen der Energie. Es ging ihm natürlich um das „chi”, auf dieses geheimnisvolle Etwas, das uns durch ein paar unscheinbare Bewegungen zuteil wird. Er gab sogar zu, dass die Chinesen ein spezielles Wort für diese Energie besässen, wir würden es aber vorläufig nicht benützen. Dann führte er in Polnisch vor, welchen Weg die Energie gerade bei der Bewegung, bei der wir angelangt waren, durch unseren Körper zu nehmen habe. Und sagte „kręgosłup” [Wirbelsäule], „barki” [Schultern], „ramiona” [Arme], „ręce” [Hände], „palce” [Finger] und zurück (durch die Handbewegung, welche den Kreis schließt) zu „biodro“ [Hüfte], „brzuch“ [Bauch], „centrum“ [Zentrum]. Mein Gott! Und ich, einfältig wie ich nun einmal bin, konzentrierte mich auf diese Wörter. Der Kopf gefangen von Übersetzen. „Kręgosłup”. Ich weiß schließlich, was das heißt und verstehe. Was das ist: Die Wirbelsäule. Und trotzdem beginne ich zu suchen. Nach irgend einer Stelle in meinem Körper. Nach etwas, das immer an seinem festen Platz sass und sich jetzt plötzlich zurückzieht. Sich in Luft auflöst. Im Wort. In einem unkomplizierten polnischen Wort. In der Sprache. „Kręgosłup”. „Barki” „Ramiona”. Ich spüre nichts. Kein Fließen. Keine Energie. Keine Wärme. Ich habe nichts. Ich bin nichts. Mein ganzer Körper hat aufgehört zu existieren. Verstohlen schaue ich mich um. Vielleicht springt die Wirbelsäule in einem Nebensatz durch das angelehnte Fenster hinaus. Oder drückt sich gerade durch die geschlossene Tür hindurch. Vielleicht hängen meine Schultern in den Dachbalken. Vielleicht drängeln meine Ellbogen im wie immer überfüllten Bus 192 bereits wieder zum Flughafen. Vielleicht klimpern meine Finger im Parterre auf dem Flügel einen Chopin-Walzer. Jemand übt im anderen Zimmer Trompete. Und ich verstehe nicht, warum mir meine Wirbelsäule abhanden gekommen ist.
Durch den nachtkalten Park kehrte ich in die Villa zurück und beschloss, nicht mehr länger über diese Sache nachzudenken.

Gestern kam ich zurück. In mein Dachzimmer. Vorgestern früh flog ich von Basel nach Berlin. Vom Flughafen Schönefeld fuhr ich direkt nach Schöneberg. An die Akazienstraße. Zu einer Einzelstunde Tai Chi bei Monika. Sie führte mich in die erste Vertiefungsstufe ein, die sogenannte yin-yang-Form. Und es war genauso wie bei Martin. Monika sagt mir etwas. Weist mich auf dieses hin und jenes. Rückt irgendetwa zurecht. Und plötzlich. Sagt sie: „Denk an die Lendenwirbel”. Mein Gott! Was ist das? „Lendenwirbel”? Kręg lędźwiowy! Der untere Teil der Wirbelsäule. Vielleicht. Das weiß ich doch. Und verstehe. Aber nichts ist da. In meinem Körper gähnt Leere. Aus dem Innern heraus. In die deutsche Sprache hinein. In der Früh hatte ich mich in schweizerdeutsch von meiner Schwester verabschiedet. Der Mann meiner Cousine, der Tochter des verstorbenen Onkels W., gab mir nach dem Begräbnis auf den Weg nach Polen zurück eine Flasche Zwetschgenschnaps mit. Selbstgebrannt aus eigenen Zwetschgen. Er klebte eine handgeschriebene Etikette auf die Flasche. „Bürner Zwetschgen 2001, 43% alc.” Diese Geste hat mich mehr berührt als das ganze durchsichtige Getränk. Monika gestand ich im fünften Stock an der Akazienstraße, dass die Schweizer Sprache, oder besser gesagt: einige der Schweizer Dialekte härter seien, und deshalb mehr verletzten, als die deutsche Sprache. Ich sagte ihr aber nicht, dass die Sprachen (alle) mir gerade meinen Körper rauben. Nach und nach. Ein Teilchen nach dem anderen. Dass die Sprachen mir im Wege stehen. Zur Zeit. Und wie. Mich hindern daran, mich selbst auch nur zu erhasten. Dass die Sprachen strammstehen. Wie die Nationalgarde. Zwischen Gedanken und Haut. Zwischen mir und nicht-mir. Dass jetzt keine Rede davon sein kann, dass das „chi” fließt. Solange Wörter im Raum stehen wie „Lendenwirbel”, „aufgerichtetes Becken”, „langer Rücken” ... – denn ich weiß nicht mehr. Was das ist. Noch wo ich bin.

Ich schreibe seit dem frühen Morgen. In einer Sprache. Und übersetze. In die andere. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Irgendwo zwischen Himmel und Erde. Am Nachmittag fahre ich zu meiner Polnischstunde. Vielleicht bringt sie mich weder auf die Beine.
 
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