krakau
17.12.05
  Doppelpunkt
Hausaufgaben. Auf den Genitiv folgt unverzüglich eine Interpunktion. Der Doppelpunkt. Nazar schickte eine email aus Lwow. Keinen Brief. In der bekannten poetischen Verkürzung. Ohne Punkt. „Danke für die Herbstverbesserung”. Deutsch. Und Polnisch: „Dziękuję za uświetnienie jesieni”. Die Gedanken kehren zurück in alte Zeiten. Herbstblätter. Und Gott. Der in Nazars Gedicht ein unbestimmtes Fürwort ist. Bei mir, wäre ich eine Dichterin, würde er höchstens ein Komma verdienen. Die Augen hingegen versinken im Schnee. Vor dem Fenster. In der Luft. Auf dem Dach. Gleich wird er alles zudecken. Warmer, dichter, frischer, feuchter Schnee. Und ich werde nichts mehr sehen. Noch fühlen. Nach Mitternacht rufe ich zum letzten Mal in diesem Jahr Wolfgang in Guangzhou an. Wecke ihn. Denn bei ihm ist die Nacht bereits vorbei. Ich will, dass er sein Flugzeug nicht verpasst. Er schließlich auch. Dann lege ich mich hin. Und überschlafe den letzten Schmerz der Einsamkeit.

Heute überlebte ich einen Poesieabend mit Wisława Szymborska. In Krakau, im Zentrum der Japanischen Kunst manggha. Im Mai überlebte ich eine Lesung mit Tadeusz Konwicki. In Warschau, im Café des Verlags Czytelnik. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wie das so ist. Außer der Tatsache, dass es in beiden Fällen regnete. Das heißt, heute hat es eben aufgehört. Und gleich legt sich hier eine dicke Schicht weichen Schnees über alles. Außer der Tatsache, dass heue Szymborska und damals Konwicki sich bereit erklärten, ihre Bücher zu signieren. Die Gefälligkeit verdienter Schriftsteller verwandelt die Menge der Bewunderer in eine gefräßige Meute. Tut mir leid, aber ich kenne dafür kein anderes Wort. Das hat Canetti seiner Lebtag nicht erlebt. Eine Masse von Verehrern im Zentrum der Japanischen Kunst vor dem Tisch der Literaturnobelpreisträgerin. Eine Masse von Verehrern im Café Czytelnik vor dem Tisch des Meisters. Die Frau Verlegerin bat heute immer wieder um Verständnis. Leise und höflich. Dass, bitte, so nicht. Absolut unfassbar. Dieses Gedränge. Meine Damen, meine Herren. Sie dürfen die Dichterin nicht zerquetschen. Nicht die Preisträgerin. Der Herr Verleger betrachtete ohne ein Wort das Tun. In seiner Anzugsschwärze. Er sicherte seine Kollegin von hinten ab. Ich weiß, was in seinem Kopf vorgeht. Denn ich kenne ihn. Ich lese es seinen Augen ab. Seiner hohen Stirn. Ein Gedicht entsteht. Das nächste. Und ich, die ich keine Dichterin bin, beneide ihn. Um das Talent. Die Gabe. Das Handwerk. Der kurzen Form. Der prägnanten Formulierung. Der männlichen Worte. Ich bin langatmig. Weitschweifig. Brauche Unmengen von Wörtern. Und die Gewährsmänner aus der Bibliothek in der Wohnung beim Erzengel. Mir kommt nur Elias Canetti in den Sinn. Seine Bücher. Aus dem Regal im Flur. Masse und Macht. Die Jagdmeute. Das Gewissen der Worte. Canetti hat zeitlebens keine polnische Schlange erlebt. Ich bereits zum zweiten Mal. So eine. Postsozialistische. Schlange. Wilder Tiere. In der es keinen Anstand mehr gibt. Mit Verlaub. Ich lese keine Gedichte. Das gebe ich offen zu. Aber gerne lausche ich ihnen. Aus dem Mund von Dichterinnen. Die Bescheidenheit von Frau Szymborskas Worten. Ging schnell unter in der gierigen polnischen postkommunistischen Hetzmeute. Dafür kann ich nun wirklich nichts. Eine Frau schreit verzweifelt „Wo ist denn hier die Hauptströmungsrichtung der Schlange?”, denn ihr scheint, sie stünde auf der Seite des Theatersaals im manggha, auf der die Schlange sich um kein Jota vorwärts bewege. Deshalb stößt sie mit allen Kräften. Und Ellbogen. In meinen Rücken. Eine andere neben mir klagt über den Mangel an Logistik. Und ich schnappe nach Luft.

Ich überlebte. Bedankte mich beim Verleger. Leichter um mindestens zwei Kilo Körperflüssigkeit. Lebendgewicht. Schweißgebadet. An der Haltestelle wartete ich auf den Bus und spürte die Verkühlung. In der Nacht. Im Bus. Nach Hause. Las ich alle Gedichte durch. Der Band endet mit einem Doppelpunkt. Und ist offen. Rund. Geschlossen. Nie wieder werde ich eine polnische Dichterin oder einen polnischen Schriftsteller nach einer Lesung in Polen um ein Autogramm bitten. Schade um die Worte.

Nach Mitternacht rufe ich zum letzten Mal in diesem Jahr Wolfgang in Guangzhou an. Wecke ihn. Denn bei ihm ist die Nacht bereits vorbei. Bis morgen wird alles mit einer dicken Schicht unschuldigen Schnees zugedeckt sein. Und ich werde nichts mehr sehen. Noch spüren. Noch hören. Ich will, dass er sein Flugzeug nicht verpasst. Und überschlafe den letzten Schmerz der Einsamkeit. Auf den Genitiv folgt immer nur der Doppelpunkt.
 
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