krakau
14.12.05
  Genitiv und Akkusativ
Noch nicht einmal Mitte Dezember, und schon habe ich die letzte Polnischstunde diesen Jahres hinter mir. Gut, dass mein Stipendium verlängert wurde. Denn noch ist nichts eingedrungen. Gar nichts. In das Bewusstsein. Den Verstand. Die Fingerspitzen. Von dieser Sprache. Im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, alles würde sich verflüchtigen. Der Kopf sich in reiner Luft auflösen. Vollkommen. Die Gedanken. Das Hirn. Die Zellen. Befänden sich irgendwo außerhalb. Von mir. Der Körper außer sich. Und außer mir. Zersetzte sich in einzelne Martinwörter. Im Gymnastikraum unter dem Dach. Im Kulturklub „Wola”.
„Wola” ist immer noch ein Warschauer Stadtbezirk. In meiner Seele. Dagegen komme ich nicht an. Die Rabsztyńska-Straße. Dort wohnte ich in jenem Jahr, in dem ich in Warschau arbeitete. Und gegen dessen Ende wir heirateten. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Gar nichts. Kein Taxifahrer wusste, wo sie ist. Diese Rabsztyńska-Straße. In Wola. Und hier Wirbelsäule. Schultern. Arme. Das Entfalten des Seidenkokons. Oder chinesisch Chan si gong. Und ich fürchte mich jetzt. Was auch immer. Zu sagen. Zu schreiben. Bin auf der Lauer. Und kontrolliere mich. Um keine Dummheiten zu machen. Ein Satz aus dem offenen Wörterbuch. Auf dem Bildschirm des Laptops. Hinter dem Text. Im nächsten Fenster. Andauernd gucke ich etwas nach. In einem Fenster. Vollendete Verbform. In jenem Fenster. Ein Verb der unvollendeten Bewegung. Im Polnischen geht man sozusagen das ganze Leben in die Schule und kann nie aufhören. Zu gehen. Ich habe die Unschuld verloren. Die Fragezeichen bohren sich in meine Stirn. Bestimmt geht das so nicht. Im Polnischen. Und Grażynka malt mir hier gleich ein rotes keep smiling in den Text. Ein Emotikon. Ein normales Lächeln. Oder ein verschmitztes. Ich habe die Zuversicht verloren. In Wola Justowska.

Heute die letzte Lektion. In diesem Jahr. Wie gut, dass mein Stipendium verlängert wurde. Heute Genitiv und Akkusativ. Die Flexion der Substantive. Die männlichbelebten Formen. Die nichtmännlichbelebten Formen. Das heißt die Sachformen. Martin der Ältere im Zimmer unter mir lacht mich aus, dass ich mir Gedanken darüber mache, warum genitivus polnisch „dopełniacz“ heißt und acusativus „biernik“. Darüber, dass das Wort „biernik” meiner Meinung nach etymologisch ähnliche Wurzeln haben muss (und deshalb auch eine ähnliche Bedeutung) wie „bierny” [passiv], „bierność” [Passivität] – und „dopełniacz“ wie „dopełnić” [auffüllen]. Er lacht und liest „Privatkorrespondenzen“ im Lemberger Kurier aus dem Jahr 1892. Und für mich ist plötzlich alles ein Problem. Sprachlich. Ich weiß nicht, zum Beispiel, ob das Wort „osoba” [Person] eine Person ist oder eine Sache. Ob es ein Substantiv weiblichen Geschlechts ist oder eine nichtmännlichbelebte Sache. Und ob zwischen dem einen und dem anderen überhaupt ein Unterschied besteht. Die Lehrerin warf heute ganz unbedacht den Gedanken in mein Notizheft, dass eigentlich niemand sagen kann, ob es sich hier um einen Genitiv oder um einen Akkusativ handle. Dieses berühmte „kogo/co” [wessen/was], das man mir in den Kopf gehauen hat wie eine Axt, schon in der ersten Polnischstunde, in den ersten Momenten in diesem Land, während der ersten Berührungen mit dieser Sprache. „Kogo/co“ – das schien mir immer absolut unangebracht. Aber alle wiederholten es leidenschaftslos. Wessen. Was. Die Studenten der Polonistik. In der stickigen Universitätsbibliothek. Nach jedem Verb. Der Bewegung. Oder Rührung. Kaufen. Wessen/Was? Lieben. Wessen/Was? Gedenken. Wessen/Was? Zuzia. Mein Gott. Wie lang ist das her. Wessen/Was? Ich habe an diese Frage nie geglaubt. Und deshalb weiß ich bis heute nicht. Warum Herr X im Polnischen einen Mercedes oder einen Fiat im Genitiv kauft. Und Herr Y ein Auto. Im Akkusativ. Warum der eine Genitivbesessen. Der andere Akkusativbelassen. Ist. Und nun plötzlich alles verschwimmt. Es unklar bleibt, ob dieser Genitiv nicht eigentlich ein gleichlautender Akkusativ ist. Alle schreiben heute emails und sms – im Polnischen im Genitiv. Der Briefträger händigt nach wie vor jeden eingeschriebenen Brief im Akkusativ aus. Heute verlor ich das letzte Vertrauen. In meine Fingerspitzen. Computertasten. Und Grammatikbegriffe. Worin zum Henker besteht die männliche Belebtheit eines Autos der Marke Fiat?


Randbemerkung von G.:
Zum Teufel mit Casus und männlicher Belebtheit, kogo/co – Es ist höchste Zeit, der Intuition zu vertrauen. Ich bin überzeugt, dass du dir erlauben kannst. Und keinen Schaden nimmst. Keine Gefahr läufst.
 
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