krakau
11.12.05
  Julian Przyboś Grundschule Nr. 12 in Rzeszów
Premiere für mich: Auftritt in der Schule. In Polen. In Rzeszów. In der Welt. Noch nie hatte ich eine Lesung in einer Schule. In keinem Land der Erde.
Die Kinder waren sehr freundlich. Weniger nervös als ich. Natürlich. Vielleicht etwas aufgeregter. Gut vorbereitete von der Klassenlehrerin. Der Polnischlehrerin. Agnieszka W. Klasse IV b. Wie schön! Ich fühlte mich sofort besser. Denn ich habe meine Schulzeit vorwiegend in solchen „b”-Klassen verbracht. Und die sind nicht schlechter als die „a“-Klassen.
Dumme Fragen gab es keine. Obwohl die Schuldirektorin die Schüler gerade vor solchen warnte. Während sie mich begrüsste. Dafür schwirrten tonnenschwere Fragen. Durch die Luft. Ich bin ja schließlich hier die Ignorantin. Und habe keine Ahnung. In welcher Welt die Jugend lebt. Wofür sich Schüler der sechsten Grundschulklasse interessieren. Können. Ich weiß nichts von Sportlern (ich kannte gerade Adam Małysz, der hat mir das Gesicht gerettet, und Simon Amman). Sie fragten zum Beispiel, warum ich nach Rzeszów gekommen sei. Weil ich hier Freunde habe. Seit Jahren. Seit einer Ewigkeit. Seit einem Vierteljahrhundert. Deshalb fahre ich auch nach Gorlice, nach Kwiatonowice, nach Gdańsk, nach Purzyce, nach Warszawa, nach Zbucz ... Weil ich Freund habe. In diesem Land. Ich lernte den Mann der Lehrerin in den achtziger Jahren kennen. In Fribourg. Da verriet ich ihnen nicht. Wir studierten damals zusammen bei meinem Doktorvater. Drückten vielleicht dieselbe Schulbank. Ich weiß es nicht mehr. Ob jener Vorlesungssaal mit Schulbänken bestückt war. Aber alles ist möglich. Immer. Das vergaß ich ihnen zu sagen. Dass der Weg nach Rzeszów natürlich in der Westschweiz beginnt. Immer. In der Grenzstadt zwischen der französischen und der deutschen Schweiz. Jan, der Mann von Agnieszka, der Klassenlehrerin, gestand mir vorgestern übrigens mitten im Rzeszower Dauerschneeregen. Dass er heute seine Jahre in der Schweiz ganz anders nutzen würde. An der Universität Fribourg. So ist das immer. Der Mensch wird klüger mit dem Alter. Aber was heißt das? Die Zeit, die wir an einem fremden Ort verbringen, ist nie verloren.
Sie wollten natürlich wissen, warum es mir in Polen gefällt. Schon zwölfjährige Kinder aus Rzeszów wissen, dass es seltsam, gar abnormal ist, dass eine Schweizerin sich in Polen wohl fühlt. Und in der Schweiz unwohl. Mein Gott! Was sollte ich auf diese Frage antworten? Dass ich seelenruhig mein ganzes Leben im Berlin-Warschau-Express (nur in dieser Richtung!) verbringen könnte und hinausstarren auf die flache unendliche Mazowszelandschaft. Oder im Bummelzug, Personenzug, im langsamsten, der von Krakau nach Rzeszów fährt. Denn auch hier sieht die Welt wohltuend ebenmäßig aus. Die Stadt liegt im Tal der Wisłoka, im Karpatenvorland. Das heißt, die Berge sind weit, weit weg. Und stören nicht. Verstellen nicht meine Gedanken. Und Phantasien. Wie eine mit diversen Kisten vollgestellte Lagerhalle. Die Sonne ist hier zu sehen. Der Himmel ist hier zu sehen. Und die vorüberziehenden Wolken.
Sie fragten, woher die Ideen kommen. Auch eine schwierige Frage. Sie kommen. Oder kommen nicht. Irgendwie wachsen sie. Sprießen. Manchmal aus ganz dummen, einfachen Dingen. Schon deshalb kann es keine dummen Fragen geben. Die Engelin gießt meine seltsamen Einfälle. Im Zimmer unter dem Dach. In Krakau. In der Nacht. Während ich traumlos schlafe. Die Ideen nähren sich von meiner Konzentration. Von konzentrierten Gedanken. Hirnkonzentrat. Ablenkungen werden kaum zugelassen.. Aber am schwierigsten sind die Momente, in denen wir nicht wissen, dass wir uns und auf was wir uns konzentrieren sollen. In denen wir ahnungslos sind. Nicht wissen, worauf es ankommt. Wachsam bleiben. Und offen sein. In alle Himmelsrichtungen. Und das gelingt immer noch am besten in einer weitläufig sandigen Landschaft. Die Gedanken dürfen nicht mit hochalpinem Granit verstellt werden. Das ist schwer zu verstehen, ich gestehe. Für Grundschulschüler.

Nicht für jeden Menschen ist das Gleiche in gleichem Masse wichtig. Jeder muss seinen Platz finden, seine Aufgabe, seine Nahrung. Seine Cerebrospinalflüssigkeit. Punkt.
Die letzte Frage war die klügste. Warum alle meine „Postkarten aus Berlin“, die ich seit Jahren für die Rzeszower Literaturzeitschrift „FRAZA“ schreibe, mit „Meine Lieben“ anfangen?
Die Form der Postkarte verlangt eine gewisse Art der Höflichkeit. Finde ich. Wie ein Brief. Wie eine email. Wie eine sms. Deswegen benütze ich eine Anredeform. Wende ich mich an irgendjemanden. Natürlich habe ich, wenn ich Postkarten schreibe, konkrete Empfänger im Kopf. So konkret, dass ich genauso gut ihre Namen nennen könnte. Aber das macht die Sache wieder unnötig kompliziert. Dann ist der eine eifersüchtig, weil ich seinem Kollegen schreibe. Der andere böse, weil er eine zu kurze Postkarte bekommt. Der dritte will nichts mehr mit mir zu tun haben, weil ich ihm eine langweilige Karte geschickt habe. Und der vierte beklagt sich, dass er eine schwarzweiße aus dem Briefkasten gezogen hat.Nicht immer ist das Leben bunt. Deshalb schreibe ich lieber an ein anonymes Kollektiv von Freunden. Meine Lieben! Natürlich. Alle Postkarten werden von Berlin nach Rzeszów geschickt. Und sind so etwas wie eine Liebeserklärung. An Rzeszów. Ich Liebe Euch Alle.
Warum von Berlin aus? Weil ich einen Berliner geheiratet habe. Das ist auch eine Liebeserklärung. In Berlin bin ich näher an Polen als irgendwo sonst auf der Welt. Ganz bestimmt näher als in der Schweiz. Danke für die Aufmerksamkeit.
 
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