krakau
13.12.05
  Martin zum Sechsten
Martin Teil Fünf siehe „Die zweite Engelin”. Es wimmelt von Martins. In meinem Krakauer Alltag. Von einem war hier noch entschieden zu wenig. Die Rede. Obwohl auch er ununterbrochen Teil hat. An meinem Leben. An meinem Schreiben. Martin der Übersetzer.
Martin, der Übersetzer arbeitet in einer Buchhandlung. Und ist eigentlich Deutscher. Ich schreibe absichtlich „eigentlich”. Weil, wie wir wissen. Ein Deutscher, der seit drei Jahren in einer Krakauer Buchhandlung arbeitet. Ein Deutscher, der seit fünf Jahren an der Jagiellonen-Universität römisches Recht lehrt. Eine Schweizer Stipendiatin. Wir alle haben eine Staatsbürgerschaft. Für Nichts und wieder Nichts. Besitzen einen Pass. Zum Schein. Und zur Erleichterung von Grenzüberschreitungen. In Wirklichkeit ziehen wir es vor. In Polen. Zu leben, zu arbeiten, wenig zu verdienen, eine gute Zeit zu verbringen.
Martin der Übersetzer. Übersetzte einen Auszug aus „Seiden”. Aus dem Deutschen ins Englische. Erstaunlich gut. Und so spricht er auch Polnisch. Erstaunlich gut. Seit über einem Monat wechseln wir regelmäßig nachmitternächtliche emails. Treffen uns in der Buchhandlung. Er schäumt Milch für meine Latte Macchiato. Oder ist mit der Waschmaschine beschäftigt. In dieser Buchhandlung ist alles möglich. Und vorhanden. Martin ist sehr jung. Sehr sensibel. Sieht eher aus wie ein Mensch der Musik. Dachte ich. Irgendeinmal ganz am Anfang. Beiläufig. Sinnlos. Niemand braucht solche Gedanken.

In der Nacht vor meiner Abreise nach Rzeszów begriff ich endlich. Wir sind nicht gewappnet. Gegen Verstehen. Oder Nichtverstehen. Dummheit. Geistige Schlitzohrigkeit. Der Himmel weiß, woher das alles kommt und wohin es geht. Im Frühling, kaum zurück aus Japan, fuhr ich zu einem Tai Chi Wochenende ans Meer. Nach Usedom. Ahlbeck. An die Grenze. Zu Polen. Ich erinnerte mich an unsere unendlichen Spaziergänge. Während der Mittagspause. Über alten Sand. Im scharfen Wind. Einen Tag in die eine Richtung. Nach Nordosten. Bis nach Heringsdorf. Am nächsten Tag in die andere Richtung. Nach Südosten. Bis zur Landesgrenze. Auf feuchtem Sand. Und dort irgendwo an der salzarmen Ostsee zwischen dem einen Land und dem anderen, in the middle of nowhere, erzählte mir die Flötenlehrerin von ihrem Schüler. Der nach Polen „emigriert“ sei. Nach Krakau. Ich wunderte mich. Die Lehrerin ist jung, wie kann sie erwachsene, volljährige Schüler haben? Sie erzählte unbekümmert weiter, dass sie ihn einmal besucht habe. In Krakau. Dass er in einer Buchhandlung arbeite.
Und in der Tat. Erst in der Nacht vor meiner Abreise nach Rzeszów. Begriff ich. Dass es nicht zwei Entflohene geben kann. Aus Deutschland. Dass es Martin der Übersetzer aus dem Deutschen ins Englische sein muss. Es gibt ja noch einen anderen Martin. Der übersetzt. Aus dem Polnischen ins Deutsche. Von ihm später mehr. Ich begriff, dass Martin, mein Übersetzer, der Altblockflötenschüler der Berliner Tai Chi praktizierenden Flötenlehrerin sein muss.

Auch der dritte Martin, mein Chen Taijichuan-Lehrer ist allgegenwärtig in meinem Krakauer Alltag. Jeden Tag denke ich an ihn, wenn ich nicht die neue Form übe, die er mir beizubringen versucht. Sondern die alte, die mir von Berlin vertraut ist. Und bereits in meinem Körper Platz genommen hat.

Gestern war ich zum ersten Mal im Zimmer von Martin, dem Älteren unter mir. Im Łaskihaus. Bei Tageslicht. Ich gestehe, dass ich schon das eine oder andere Mal abends bei ihm sass. Bei einem bescheidenen Gläschen Rotwein. Wenn in der Küche Kochrituale zu Gange waren. Und uns der Fettgestank zu Leibe rückte. Gestern früh klopfte ich also an die Tür von Martin, dem Älteren. Der auch Übersetzer ist. Bevor er das Haus Richtung Bibliothek verließ. Kein Morgenmuffel. Dieser Martin ist eher ein Mensch der Bücher als ein Mensch der Musik, geschweige denn der Sopran- oder Altflöte. Ich bat ihn, mir zwei Angaben zu überprüfen. Zwei Bücher auszuleihen. Ein paar Seiten zu kopieren (es geht natürlich um General Bijak). Ich hatte keine Lust auf Bibliothek. Nicht an diesem Morgen. Und an keinem anderen. Ich sah vor seinem Fenster den alten Baumstamm. Und begriff, dass dies der Anfang des Baumes sein musste, der über meinem Dachfenster im Himmel endet. Ich starre täglich stundenlang in seine kahlen Äste. Die im blassen Winterhimmel aussehen wie die Ärmchen unzähliger hungriger Kinder. Unten, vor Martins Fenster, steht der Baumstamm. Und sieht nicht gesund aus. Alt. Müde. Morsch. Bei mir oben zeigt er weder sein Alter noch seine Wunden. Tut jung und übermütig. Gierig. Nach dem Leben.

Es wimmelt von Martins. Gestern Abend versammelten wir uns geschlossen, die ganze Belegschaft des Łaskihauses, alle großen und kleinen „M“, aber auch sämtliche anderen Buchstaben des Alphabets – zu einem literarischen Abend im Goethe Institut. Dort sass auch Martin, der Übersetzer ins Englische und Flötenschüler meiner Tai Chi Freundin. Gegen Ende der Veranstaltung, niemand weiß warum, gegen Ende dieses multimedialen happenings zum Stichwort „junge berliner szene“ wurde ein Stück kurzer Prosa von Tilmann Rammstedt gelesen. Titel: Das Mundstück. Protagonistin: die Flötenlehrerin. Protagonist: der Ich-Erzähler, ehemaliger Schüler der Flötenlehrerin.
 
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