krakau
2.12.05
  Martin zum Vierten
Dafür kann ich nun wirklich nichts. Ein weiterer Martin ist angekommen. Stipendiatenwechsel. Monatswechsel. Quartalswechsel. Geht alles nicht so richtig auf Anfang Dezember. Auch Marc wohnt jetzt hier. Es wimmelt nur so von großen „Ms“. Und geschwungenen, großen und kleinen „eS“. Wie Sonnenblumenhonig. Schmalzbutter. Senfgläser. Schmeißfliege. Schalentier. Und so weiter. Und so fort.

Manchmal wissen wir in der Tat nicht, warum wir zu gegebener Stunde das eine tun, und das andere lassen. Ehrlich gesagt, verstanden wir vorgestern, während der Andreasnacht, gar nicht, warum wir im Łaskihaus das Unaufgegessene von weiß der Himmel wie vielen Stipendiaten in weiß der Teufel welchem Zustand in Mülltüten stopfen mussten. Warum ausgerechnet wir – ich und der alte (im Sinne der Aufenthaltsdauer in der Villa) Martin. Aber wir taten es. Weil die Putzfrau darum gebeten hatte. Und weil wir nichts Besseres zu tun hatten. Das plötzlich leergewordene Haus forderte sein Recht. Wir mussten uns daran gewöhnen. Ein Wort fand sich dann sogar fast wie von selbst. In der Küche. In diesem Sinne war der Abend nicht ganz verloren. Außerdem sind gute Beziehungen zu Putzfrauen und Hausmeistern immer von Vorteil. Überall auf der Welt.

Heute erst habe ich begriffen, warum die beiden Kühlschränke, die Unter- und Überschränke, alle Schubladen und das ganze riesige Vorratsregal entleert, gesäubert und desinfiziert werden mussten. Weil der neue (im Sinne der Aufenthaltsdauer in der Villa) Martin am Abend mit seiner Freundin in die Küche kam. Zuerst schleiften sie zu zweit einen riesigen Rucksack über den Boden und ließen ihn liegen. War wohl sehr schwer. Dann rannten sie nochmals mehrmals hinaus und brachten pralle Tüten und Taschen an. So viel sie nur tragen konnten.
„Wir waren auf der Jagd“, warf mir der neue Martin schnaufend zu.
Ich verstand den Witz natürlich nicht. Mehr sagte er aber auch nicht. Weil er bereits wieder verschwunden war. Ich suchte nach dem Hirschgeweih. Er hatte sich nicht einmal vorgestellt. So stellte ich mich vor. Als er mit den nächsten vollen Einkaufstüten durch die Tür trat. Und fragte, ob sie meine neuen Nachbarn seien. Heute früh hatte ich nämlich eine Matratze entdeckt. Im Korridor, unter dem Dach, vor meinem Zimmer. Eingerollt in eine durchsichtige Plastikfolie. Und zugeklebt. Und rundherum von oben bis unten mit schwarzem Filzstift beschriftet. „Das ist die Matratze von Martin ... (+ Nachname, den ich hier aus Datenschutzgründen nicht nennen will), ich wohne dort …(+ Pfeil nach rechts).“

Der neue Martin stellte gleich richtig, dass nur er mein Nachbar sei. Sie würde ihn von Zeit zu Zeit besuchen. Ihren Namen nannte er nicht. Weder er. Noch sie. Egal. So genau wollte ich das ja nicht wissen. Bettgeschichten interessieren mich nicht. Ihre Matratze steht eingerollt im Flur. Derweil sie Einkäufe auspackten. Auf dem langen Tisch ausbreiteten. Sie fing an, mit einem feuchten Lappen Dosen und Gläser abzustauben … Ich floh. In der Küche war kein Platz mehr. Mehrere Kilogramm Mehl, mindestens 25 Einpfundpackungen Spaghetti. Ebenso viele andere Nudeln. Bestimmt auch einige Kilogramm Reis, Salz, Zucker. Ein paar Dutzend Dosen mit Erbsen und anderem. Gläser mit roten Rüben. Apfelmus. Schokolade, Kekse, Trockenfutter. Schwarzteebeutel, Kräuterteebeutel, Kaffeebeutel, Säfte, Bier, Wein …

Du liebe Güte! Was soll das bloß werden? Notvorräte wie für eine abgeschiedene Berghütte. Wie für den Kriegsfall. Wie für eine Kompanie ausgehungerter Pioniere. An allen Ecken in diesem Land gibt es Supermärkte, die rund um die Uhr offen sind, sieben Tage die Woche. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie mehr als ein Kilo Mehl auf einmal gekauft. Und das reicht meist für fast ein ganzes Jahr. Mehl. Und Martin. Und Matratze. Wozu brachte er seine Matratze mit? Sein Nachname sei, verriet er mir, kurz bevor ich die Küche verließ, in der die Vorräte bereits an den Wänden hochkletterten, wie immergrünes winterhartes Unkraut, schweizerisch-italienisch. Aber er sei Deutscher. Dafür kann ich ja nun wirklich nichts. Ein weiterer Martin ist angekommen. Im ganzen Haus wimmelt es von großen und kleinen „ms“.
 
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