krakau
5.12.05
  Nebel
Gestern Abend versank unvermittelt die ganze Stadt im Nebel. Ich stand an der Haltestelle Bagatela und wartete auf den Bus. Und plötzlich verschwand alles. Die Straßen waren ausgestorben. Ab und zu zog noch eine schläfrige Straßenbahn vorbei. Und dann war auch dieses Spektakel zu Ende. Und nur noch der vordere Scheinwerfer näherte sich. Sehr undeutlich. Eine milchig Kugel. Mehr nicht.

Und in diesem Moment ergriff mich eine unendliche Sehnsucht. Unerhört. Und unerträglich. Als ob sie nur auf diesen einen und einzigen Augenblick gewartet hätte, in dem sie, die riesige, unförmige, aufgeblasene, freche, hässliche Sehnsucht in meiner Welt Platz nehmen kann. Ungeniert. Sich ausbreiten. In meinen Träumen. In meinen Gedanken. In meinen Muskeln.

Ich sehne mich. Aber ich sehne mich nicht nach meinem Land. Noch nach irgendeinem Ort. Weder nach einem fassbaren. Noch unfassbaren. Weder nach dem Erzengel in Berlin. Noch nach meinem hundertjährigen Liegnitz. Weder nach dem Kleiderschrank. Noch nach dem Bügeleisen. Noch nach dem Bücherregal. Noch nach dem Schuhschrank.
Ich sehne mich. Nur nach Wolfgang. Während ich an der Haltestelle stehe. Umgeben von undurchdringlichem Nebel. Während ich auf nichts warte. Denn hier ist alles auf einen Schlag verschwunden. Und nach nichts anderem. Sehne ich mich. Nach niemandem sonst. Unser Pinguinleben ist kaum mehr zu ertragen. Rücken an Rücken. Schwarz an Schwarz. Die halbe Welt dazwischen. Oder auch die ganze. In meinem Zimmer unter dem Dach ist es warm. Aber leer rund um meinen Kopf. Und an den Ellbogen. An der Haltestelle Bagatela. Bei ihm ist schon tiefe Nacht. Er schläft im Hotel Ramada, im Zimmer 2010, in Hongkong. Wieder einmal ist es uns nicht gelungen, miteinander zu sprechen. Irgendwann (beim letzten Vollmond!) schickte ich ihm von dieser Haltestelle aus eine SMS, dass ich, während ich auf den Bus warte (alles wiederholt sich), den Vollmond sehe. Und eine Sekunde später kam die Antwort, dass er ihn auch sehe. Damals war er in Stralsund, stand auf dem Balkon und starrte in den Abendhimmel. Wie ich. An den Krakauer Planty. Damals befanden wir uns noch irgendwie in der selben Zeit. Obwohl wir nicht zusammen waren. So doch immerhin gleichzeitig. Jetzt ist es schwierig, sich zu einem Anruf zu verabreden. Oder gar unmöglich.
Ich sehne mich nach meinem eigenen Ehemann. Der in Stanley, im Süden der Stadt, in einem Thailändischen Restaurant hervorragend zu Abend gegessen hat. Zusammen mit einem Kollegen. Und sich, wie er in der email schrieb, „unanständig“ gut fühlte. Über der Stanley Bucht. Mit Sicht auf das Südchinesische Meer. Bei einer leichten Brise. Um die Nase. In Gedanken bei seinem kranken Vater im Berliner Krankenhaus. Das Leben schwankt wie eine müde Straßenbahn durch dichten Nebel. Nur der vordere Scheinwerfer ist zu sehen. Sehr undeutlich. Eine milchig Kugel. Mehr nicht. Aber immerhin.

Heute früh klingelte das Telefon. Mein Stipendium wird verlängert. Ich bleibe bis Ende März 2006 in der Villa.
 
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