krakau
1.1.06
  Ausflug in die Tiefen der Grammatik
Neujahr in Danzig. Teil zwei. Bis zum Abend waren wir alle wieder hungrig. Also trafen wir uns zu einem erlesenen Abschiedsessen. Zwischen dem Salat und der Suppe servierte Radek nach so vielen Jahren unserer Freundschaft, nach so vielen Jahren meiner sprachlichen Qualen, mit leichter Hand und frischem Geist einen „Zwischen-Gang“ – wie das meine Russischlehrerin in Basel seligen Gedenkens zu nennen pflegte, wenn sie zwischen dem Appetitanreger und der kalten Vorspeise genüsslich ihre erste Zigarette anzündete.
Vielleicht war es auch Radeks „Zwischen-Satz“.
Denn er verkündete in aller Seelenruhe: „Das ist ganz einfach!“ Radek ist Mathematiker und weiß fast alles. Wie Wolfgang. „Du, Judith und ein Hund männlichen Geschlechts bilden grammatikalisch im Polnischen eine „männlichpersonale” Gruppe. Du, Judith, bringst in diese Gesellschaft mit beschränkter Haftung als Frau die „Person“ ein, der Hund die „Männlichkeit“. Das Männliche dominiert in der polnischen Grammatik immer. Auch wenn sie vom Hund kommt. Und tausend Frauen daneben stehen.“

Ich bin sprachlos.
„Das soll wohl ein Witz sein...“, bringe ich mühsam hervor. Und meine Stimme, selbständig wie immer, versagt mir sofort ihren Dienst.

Ich ringe nach Atem. Radek frohlockt. Gleich kommt sein Żurek. Er schüttelt den Kopf. Wehrt ab. Ist alles ernst gemeint. Aber keine Sorge, beruhigt er vom anderen Ende des Tisches, viele Polen kennen diese Regeln auch nicht. Ein überaus schwacher Trost. Denke ich. In letzter Zeit höre ich das immer wieder. Dass auch die Polen… mit dem einen oder anderen nicht zurechtkommen. Als ob die Tatsache, dass auch die Polen… irgendetwas an meiner misslichen Lage verbessern würde. In dieser Sprache. Das allerschönste Kompliment des vergangenen Jahres war die anerkennende Feststellung meiner Polnischlehrerin, dass ich das Niveau (oder den Standard?) der Sprachschwierigkeiten und Fehlerquoten der native speaker erreicht habe. Das heißt, in meinem Kopf befinden sich ebenso viele Fragezeichen wie in jedem polnischen Kopf. Nur dass die in meinem Kopf - im Gegensatz zu den polnischen Köpfen - Verheerendes anrichten. Mein Denken anregen. Ich überlege nur noch. Wäge ab. Hin und her. Und auf und ab. Mir vergeht. Der Mut. Zum Risiko. Grażyna, meine diskrete und heimliche „Sekretärin”, riet mir schon vor langem „folge der Intuition“. Aber die ist vor die Hunde gegangen. Und eingeschlafen. Bereits im vergangenen Jahr. Kehren wir also zu Radek zurück. Er hat seine heiße Suppe ausgelöffelt.

„Das ist reine Mathematik”, sagt der Mathematiker und kaut am letzten Rest meiner Verzweiflung. „Und Mathematik ist einfach. Ein Mensch weiblichen Geschlecht ist grammatikalisch eine Sache. So wie ein Vogel, eine Parkbank, oder ein Baum. Ein Mensch weiblichen Geschlechts, bzw. eine sogenannte Frau kann grammatikalisch zur Person aufsteigen, falls sie einen geeigneten Partner finde. Als Partner kommen in Frage entweder ein Mensch männlichen Geschlechts, oder ein Tier, auch männlichen Geschlechts. Wenn also eine Frau eine Grammatikallianz eingeht mit einem Erpel, dann werden beide sprachlich als männliche Personen behandelt.“

So langsam dämmert es mir. Der Hund (meiner, nur meiner) liegt in Feleks Polnischunterricht begraben. Felek schwelgte in seinen Ausnahmen, die er stundenlang, wochenlang, jahrelang mit Inbrunst an die Tafel malte. Felek hielt seine Polnischstunden in Deutsch ab. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie das überhaupt möglich war. Ich kann mich nur noch erinnern, dass es genauso war. Felek benützte eine Grammatik der polnischen Sprache, die in Deutsch abgefasst war. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie das möglich war. Ich kann mich nur noch erinnern, dass es so war. Und dort, in diesem schmalen Bändchen wurde der diskriminierende mathematisch-grammatikalische polnische Begriff „męskoosobowy” [männlich-personal] wunderbarerweise verwandelt in „männlich-belebt”. Die ganze Zeit, ein halbes Jahrhundert lang, länger als ich Roma kenne, sitzt in meinen grauen Zellen dieses idiotische Wort aus der polnischen Grammatik in deutscher Sprache fest: „männlich-belebt”. Seinetwegen – und nur seinetwegen – wollte ich nie begreifen, warum der Stier grammatikalisch „nicht männlich belebt” ist, also eine Sache, obwohl doch auch er in der Arche Noah sein Plätzchen fand, genauso wie der Löwe, der Hase, der Hahn, der Spatz, der Schwan oder der Pinguin!

Felek ist an allem schuld. Morgen kehre ich mit den Danziger Pinguinen nach Krakau zurück. Am Abend werde ich mit ihnen den Weg von der Bushaltestelle bis zur Villa zu Fuß zurücklegen. Pinguine können nur auf Schnee laufen. Und daran fehlt es auf der Kastanienstraße bestimmt nicht. Übermorgen schreibe ich meinen nächsten Bericht. Polka, Tango und ich kehrten als polnisch-männliche Personalunion nach Hause zurück.
 
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