krakau
11.1.06
  Die Autorität
Die Autorität ist im Polnischen männlich, aber ein sogenannt „nicht menschliches“ Maskulin. Die Autorität ist grammatikalisch kein Mensch. Weder im Polnischen noch im Deutschen. Wir überprüften es im Wörterbuch. Meine Lehrerin und ich. Überrascht hat uns dabei, dass die Erklärung des Wortes (die in Wörterbüchern immer dann erfolgt, wenn das Wort selbst den Wörterbuchautoren zu wenig selbsterklärend erscheint) gleich nach dem Doppelpunkt als erstes Synonym, als erste semantische Möglichkeit das Wort „Mensch“ nennt.
„Autorität: Mensch, Institution, Doktrin, Schrift usw.”

Das Problem tauchte in einer unschuldigen Konversation auf:
„Was machst du?“
„Ich schreibe. Zitiere Autoritäten [poln. autorytetów – gen.pl., Anm.d.Übers.]“
„Ich zitiere Autoritäten [poln. autorytety – akk.pl., Anm.d.Übers.]“, berichtigt die Lehrerin.
„Warum?“ Ich begehre auf. „Ich zitiere Spezialisten. Ich zitiere Kollegen. Ich zitiere Fachleute.”
„Richtig. Spezialisten, Kollegen, Fachleute sind im polnischen zwar männliche Substantive, enden aber auf –a und werden wie weibliche Substantive dekliniert. Weibliche Substantive bereiten keine Schwierigkeiten. Nie.”
„Wunderbar!“ So schnell gebe ich nicht auf. „Ich zitiere männliche Personalformen. Ich zitiere Gewährsmänner. Ich zitiere Wissenschaftler. Ich zitiere Konwickologen. Neurologen. Astrologen. Laringologen. Gynäkologen. Endokrinologen.

Es geht nicht um den Hormonhaushalt. Verbissen versuche ich, Frauenliteratur zu betreiben. Momentan, in meinem Krakauer Leben ist meine einzige Autorität „M“ wie Martin. Gestern nach dem tai chi schien es mir vollkommen unmöglich, die Chenform je zu erlernen. Martin hielt uns auf Trab. Mich in den Wechseljahren und die beiden pubertierenden Jungs. Ich beklagte mich nach der Stunde. Bei Martin. Zum ersten Mal. Hätte ich geschwitzt. Zum ersten Mal. Hätte ich Muskelkater. Zum ersten Mal. Beruhigte er mich. Das sei ein gutes Zeichen. Lächelte er freundlich. Gute Muskelarbeit. Geknickt kehrte ich durch den Park in das leere Haus neben der Villa zurück und dachte, nie. Nie werde ich diese Form beherrschen. Und heute schlossen wir die Kurzform der 19 Bewegungen ab. Sie dauert zwischen drei und dreieinhalb Minuten. Und ist die einfachste aller möglichen. Formen. Für Anfänger. Für solche, die keine Zeit haben. Zu üben. Und plötzlich kann ich sie. Mehr oder weniger, natürlich. Aber es geht. Irgendwie. Von dem Moment an, in dem ich Absicht und Ambition aufgab. Jetzt fürchte ich nur noch das Fliegen – die letzte Bewegung vor dem Abschluss der Form – durch den ganzen Gymnastiksaal im ersten Stock des Kulturhauses „Wola”. Aber abgesehen davon, spult sich das Ganze ab wie ein glänzender Seidenfaden. Und alles ist in Ordnung. Als ich oben ankam, betrat ich das dunkle Łaskihaus, kochte mir in der kalten Küche Tee – und plötzlich fiel die ungeheuerliche Anspannung der letzten Tage, der letzten Jahre von mir ab. Vollkommen unerwartet. Im Moment, als ich meine Widerspenstigkeit aufgab. Meinen Aufruhr. Den äußerlichen. Und innerlichen. Und mich in die ungemütliche Küche setzte. Noch vor dem Vollmond. Das ist alles. Und schon geht es nicht mehr um den Hormonhaushalt.

Ich wechsle die Themen. Springe von einem zum anderen. Ich wechsle die Sprachen. Springe vom Deutschen ins Polnische. Vom Polnischen ins Deutsche. Ich hatte nie eine Muttersprache. Denn mich lernte man zu Hause einen seltsamen hügelansteigenden Dialekt, der weder zu beschreiben noch aufzuschreiben ist. Der keine Buchstaben kennt. Noch eine Schrift. Ich hingegen habe die Sprache unter den Fingern. Auf der Tastatur. Unter den Kuppen. Nicht im Mund. Nicht zwischen den Zähnen. Nicht im Hals. Jetzt wechsle ich auch die tai-chi-Formen. Springe vom Chuan ins Chen. Und nichts geschieht. In meinem Zimmer unter dem Dach praktiziere ich morgens Chuan. Und bei Martin am Abend Chen. Ich beziehe mich auf ernsthafte Autoritäten. Ein Satz aus der Polnischstunde. Aus dem Heft mit den ungeordneten Notizen. Von Hand eingetragenen im Übrigen. Ich wechsle die Bleistifte. Ich wechsle die Wörterbücher. Ich wechsle die Dateien. Ich wechsle die Martins. Wolfgang fand mir einen weiteren. In Internet. Er nennt sich lapidar "Der Martin in Krakau". Mit bestimmtem Artikel. Und führt seinen blog „martininpolen”. Im Polnischen gibt es keine Artikel. Weder einen bestimmten noch einen unbestimmten. Die Autorität ist im Polnischen männlich, aber ein sogenannt „nicht menschliches“ Maskulin.
 
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