krakau
8.1.06
  Die Hand
Ich träume überhaupt nie. In Krakau. Das ist seltsam. Wo doch das Haus voller Geister ist. Die sich von dem Abgelaufenen, Unaufgegessenen der Stipendiaten aus aller Welt ernähren. Aber nachts schlafen wir. Seelenruhig.

Gestern packte mich eine tiefe Depression. Sie dauerte kurz, war aber ziemlich heftig. Der Schmerz ist die Kehrseite der Zeit. Und die Intensität die Innenseite der Magenkrämpfe. Traurigkeit erdrückte mich plötzlich. Ein Satz nicht aus dem Wörterbuch. Mehrere Stunden lang. Heute ging ich im Wald spazieren. Auf der Suche nach Sauerstoff. Und der lichten Seite der Welt. Ich fand sie unter den Füßen. Der Wald war weiß. Die Erde bedeckt mit Eis. Darüber lag Schnee. Mit mir wanderten Polka und Tango. Über den Schnee. Manchmal rutschten sie auf dem Bauch. Über die weiße Seite der Welt. Sausten abwärts. Danach führte ich sie hinauf auf den Piłsudskihügel. Sie suchten meine Hände. Polka die linke. Tango die rechte. Und schnauften schwer.

In der Nacht kam der Traum. Der erste Traum in diesem Jahr. Der erste zweibeinige Traum in diesem Leben. Kam nach Krakau und reichte mir die Hand. Als ob er um Verzeihung bitten wollte. Ich habe keine Ahnung, wofür. Dann ging er ohne ein Wort des Abschieds weiter. Aber die Hand ließ er zurück auf dem weißen Tischtuch in der Küche. Damit jemand da ist. Wenn ich zum Frühstück herunter komme. Die Küche ist weder im Traum noch in Wirklichkeit gemütlich. Ohne Sinn und Verstand vergegenwärtige ich mir jetzt, dass der Traum mir die linke Hand gegeben hatte. Der Traum ist Linkshänder. Wie meine Engelin. Die Putzfrau wechselt von Zeit zu Zeit das Tischtuch. Der Tisch ist für zwölf Personen bestimmt. So viele Stühle stehen um ihn herum. Schwere. Lärmende. Hölzerne. Stühle. Mit hohen Lehnen. Man kann die Ellbogen aufstützen. Im Stehen. Oder den Hinterkopf anlegen. Im Sitzen. Je nach Lust. Und Laune. Aber es ist keiner da. Das Tischtuch ist sauber. Das Tischtuch macht schaudern. Das Tischtuch ist unberührt. Unter dem Schnee liegt eine dicke Eisschicht verborgen. Das Tischtuch ist eine dünne künstliche Metalldecke. Bügelfrei. Niemand versteht den Feinsinn. Von Herrenhemden. In der Früh sitze ich allein am Tisch. In der unwirtlichen Küche. Der Tisch ist für niemanden gedeckt. Würde hier nämlich jemand Suppe kochen oder Teller waschen wollen, könnte sich daneben keiner mit dem anderen mehr unterhalten. Deshalb sind alle weggefahren. Zu den orthodoxen Weihnachtsfeierlichkeiten. Nach Przemysł. Nach dem alten Kalender. Kein Wort wäre zu verstehen. Die Akustik ist von Architektenhänden gemacht. Mein Schwiegervater baut Türme. Im Speisesaal. Im alten Refektorium. Mein Großvater hat Schmerzen in den Knien. Auf dem synthetischen Tischtuch liegt mir gegenüber eine einzelne Hand. Haarig. Warm. Fleischig. Vielleicht eine pelzige Tatze. Nein. Eine Hand. Eine müde Hand. Die Hand des Schlafes. Die linke Hand des ersten zweibeinigen Traums des Jahrhunderts. Wie spät ist es? Im Traum gibt es keine Armbanduhren. Weder nach dem alten noch nach dem neuen Kalender. Die linke Hand besitzt weder einen Reisepass noch eine Luftröhre. Falls ich wieder aufwache, stelle ich ihr die zweite zur Seite. Damit der Dual sich vollenden kann. Und erfinde uns allen eine Geschichte. Ein abendliches Tête-à-tête. Mit einem Gläschen Shiraz.

Gestern packte mich eine tiefe Depression. In der Polnischstunde lernte ich, dass wir nur zwei Hände haben. Pinguine haben angeblich zwei Ohren. Ein Milchkännchen einen Schnabel. Darumas gucken mit zwei leeren Augen, aber im Suppenteller schwimmen fette Fischaugen.

Ich träume überhaupt nie in Krakau. Ich wollte eine Karte schreiben, nach den Feiertagen, nach dem Neujahr, an eine gewisse wichtige Dame. Höflich in Deutsch. Und von Hand. Bei dem Wort „Zweidimensionalität” bekam meine rechte Hand einen Wutanfall, griff auf ihr polnisches Gedankenguthaben zurück und schrieb selbsttätig „Dzwaj...”.
 
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