krakau
23.1.06
  Pinguinleben 2
Und Wolfgang ist wieder nach Berlin zurückgeflogen. Bei klirrendem Frost. Nahm Ursula, die neue Stipendiatin aus der Priegnitz, mit. Kaum angekommen, hat sie schon wieder etwas zu erledigen zu Hause. Für immer entschwunden ist gestern Martin, der Ältere. Bei strengem Frost. Hinterließ er mir Mandarinen und löslichen Kaffee. Die Türen fallen hinter allen Weggegangenen zu. Die Zimmertür. Die Haustür. Die Taxitür. Der Kofferraumdeckel.

Und wir sind wieder allein in diesem leeren riesigen Haus. Martin, der Jüngere und ich.
Erst jetzt ist mir aufgefallen, dass ein Martin unter mir wohnte. Und der andere neben mir. Zur Rechten. Zur Linken wohnt niemand. Und über mir ist nur die Dachschräge. Und darauf liegen Dachziegel. Einer neben dem anderen, sorgfältig überlappend. Aufgelegt. Undurchlässig. Regensicher. Schneesicher. Bedeckt nun von ächzendem Frost. Die Schneereste sind am Samstagnachmittag als Tauregen heruntergetropft. Während eines kurzanhaltenden Intermezzos. Eines sogenannten unerwarteten Frühlingseinbruchs. Bevor der Temperatursturz in unser Leben trat.

Wolfgang schlief. Morgens. Ich schrieb. Er schnarchte. Ich lief. Mit den Fingern. Über die Tasten. Nach einigen Stunden weckte ich ihn. Und er erzählte mir die nächste Folge eines heroischkomischen nie endenwollenden Epos zum Guten Tag.

All das wird mir wieder fehlen. Er. Das Schnarchen. Das Erzählen. Die Einschlafgeschichten. Und Aufwachgeschichten. Unsere täglichen Pinguinrituale. Die Liebestänze.

Noch bevor alle Türen zufielen, träumte ich, dass ich ein dunkles Gebäude betrat. Ein modernes, neuerbautes, siebenstöckiges Bürohaus. Ich kann mich nicht mehr erinnern, woher ich wusste, wie viele Stockwerke das Haus hat. Aber ich kann mich erinnern, dass ich es wusste. Ich betrat nur die ziemlich kleine, schäbige Eingangshalle. Durch eine Glastür, die sich geräuschlos hinter mir schloss. Für immer. Das wusste ich. Woher ich das wusste, kann ich nicht mehr sagen. Die Wände waren verkleidet mit Kunstholzplatten. Sehr glatten. Dunkelmahagonibraunen. Sehr kühlen. Undurchlässigen. Distanzierten. Unter den Fingerspitzen und Handflächen. Ich suchte einen Lichtschalter. Beide Hände. Tasteten die Wände ab. Ohne dass ich mich von der Stelle gerührt hätte. Gelähmt vor Angst. Ich wollte nur Licht anknipsen. Es gab keinen Schalter. Keine Deckenbeleuchtung. Es gab gar nichts. Nur in der Tiefe des winzigen Eingangsbereichs stand eine Tür zum Aufzug offen. Und der Aufzug war grell erleuchtet. Ich fürchtete mich, den düsteren Raum zu durchqueren. Ich fürchtete, die Aufzugstüren könnten sich plötzlich schließen. Vorzeitig. Weil jemand den Aufzug nach oben holt. Obwohl ich wusste, dass kein Mensch in diesem Gebäude ist. Dass hier noch nie ein Mensch war. Ich fürchtete, ganz ohne Licht dazustehen. Ich fürchtete mich davor, mich dem Aufzug zu nähern. Ich fürchtete mich davor, den Aufzug zu betreten. Ich fürchtete mich davor, dass ich im Aufzug zwar im Licht stünde, aber eingeschlossen. In einem Raum mit selbsttätig schliessenden Türen. In einem verengten Raum, der seine Fahrtrichtung selbst bestimmt. Ich fürchtete mich. Im Traum. Und rührte mich nicht von der Stelle. Im Traum. Ich beschloss, auf den Morgen zu warten. Im Traum.

Unsere Pinguinrituale. In der Früh schläft Wolfgang und ich stehe auf. Er schnarcht und ich schreibe. Er laut. Ich schnell. Dann erzählt er mir im Halbschlaf eine absonderliche Geschichte zum Guten Tag.

Es war so verdammt kalt, dass ich nicht einmal weinen mochte am Flughafen. Ich dachte, die Tränen würden sich in meine Wangen eingraben. Die Haut verätzen. Die scharfe Kälte spüre ich auf der Haut. Den höllischen Schmerz unter der Haut. Dem Taxifahrer fror der Taxameter ein. Er berechnete den Preis aus dem Kopf. Ganz anständig. Einem Flugzeug ist es relativ gleichgültig, wo die Bodentemperatur liegt.
 
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