krakau
13.1.06
  Seelenallee
Heute ist der Dreizehnte. Gestern kaufte ich die neue Ausgabe von „Pół wieku czyśćca” [Ein halbes Jahrhundert Fegefeuer], der Gespräche von Stanisław Bereś mit Tadeusz Konwicki aus dem Jahr 1984. Die Ausgabe ist nicht ganz neu, sie erschien schon vor zwei Jahren. Aber für mich ist sie neu. Denn ohne diese Gespräche kann keiner mehr ernsthaft über Konwicki nachdenken. Kann niemand mehr ernsthaft anfangen, ein Buch über Konwicki zu schreiben. Die erste Ausgabe (London 1986), die zweite (zweiter Umlauf), die dritte (sozusagen offiziell), alle unter dem längst entzifferten Pseudonym eines Herrn Nowicki – verstauben in meinem Arbeitszimmer in Berlin.

Heute schrieb mir Herr Bereś eine warme Widmung in das Buch. Gänzlich unerwartet, wie überhaupt dieser eisige dreizehnte Januar. Erschien er in der Villa, denn Martin, der Ältere ist zurückgekommen.

In der neuen Ausgabe gibt es kaum ein neues Wort. Außer des ergreifenden Vorworts des Fragenstellers – nach zwanzig Jahren. Natürlich. Erinnere ich mich an jene Zeiten in Warschau. Ich war damals ein sehr naives Mädchen mit Zöpfen.

Neu sind hingegen einige Fotos. Von Nina Taylor: das Haus in der Kolonia Wileńska, in dem der junge Meister wohnte. Heutiger Zustand. Von einem unbekannten Fotografen: China 1956. Ohne weiteren Kommentar. Der junge Herr Konwicki vor einem knienden Elefanten.
Ich schrieb eine email an den angeheirateten Sinologen. Mit der Frage, wo das sein könnte. Die Antwort kam unverzüglich in das Zimmer unter dem Dach: die Seelenallee, die zu den Ming-Gräbern führt. Nördlich von Peking. Alle Touristen auf dem Weg zur Chinesischen Mauer machen dort Halt. Um sich gegenseitig zu fotografieren (aktueller Stand siehe http://www.henner.info/chona/2004_0423_4.jpg). Immer schon. Denn dort stehen Tierpaare. Sich gegenüber. An der Allee. Der toten Seelen und Geister. Riesige Tiere aus Stein. Erweisen den toten Kaisern ihre Ehre. Es gibt ein Paar kniender Elefanten. Und ein Paar stehender. Der Meister steht vor dem knienden Elefanten und streicht ihm über die Nase. Über den Rüsselansatz.

Die email endete mit der etwas verwirrenden Frage: Waren wir nicht zusammen dort?
Der nachfolgende Dialog erfolgte über skype:
„Weiß ich nicht.”
„Wenn wir dort gewesen wären, müsstest du dich erinnern.“
„Wahrscheinlich schon.”
„Ich weiß, dass wir auf der Mauer waren.”
„Ja. Das weiß ich auch.”
„Ich habe ein Foto von Dir.“
„Auf der Mauer?”
„Ja, auf der Mauer!“
„Allein?“
„Ja!”
„Ich weiß. Das Foto hat eine Frau gemacht, deren Name mit „M” anfing. Mehr weiß ich nicht mehr.”
Wir begegneten uns in China. Der Beste Berliner und ich. Wann war das? Kurz vor dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Ich kehrte danach in die öde Schweiz zurück. Er in das kochende Berlin. Und dann trat absolute Stille ein. Für drei Jahre. Wie das Amen in der Kirche.

Ende der Abschweifungen. Es ist höchste Zeit. Von nun an muss ich mich ausschließlich auf Konwicki konzentrieren. Ich habe meine Bibel. Ein halbes Jahrhundert Fegefeuer. Mit einer Widmung vom Dreizehnten.
 
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