krakau
17.1.06
  Spechte
Für Sonntag wird schönes Wetter vorhergesagt. Meldete mein Mann am Samstag aus Stralsund per email. Also begab ich mich auf einen einsamen Spaziergang in den Wolskiwald. Und dort wimmelte es. Von Vätern mit Kindern. Auf Schlitten. Von Großeltern. Auf Bänken. Schneefrei geputzt. Mit Taschentüchern. Von Enkelkindern. Weinenden, zeternden, zappelnden. Bis ein Becher umkippte. In den dicken Fäustlingen. Und die Spechte. Familie der Piciformes. Schädel mit Sonderanpassungen. Federnde Verbindung zwischen Meißelschnabel und Hirnschädel. Kurze Läufe mit kräftigen Füßen. Stützschwanz. Bewohnen die Wälder fast der ganzen Welt. Eine relativ junge Gruppe, existierte zur Zeit der großen Landmassentrennungen wahrscheinlich noch nicht.
Mit der Wettervorhersage sieht es in diesem Land schlecht aus. In den Zeitungen gibt es überhaupt kein Wetter. Und im Radio werden jeweils höchstens zwei Landesteile genannt, in denen ich mich meistens gerade nicht befinde. Um sieben Uhr fünfzehn in der Früh. Zum Beispiel in der Suwalszczyzna. Und in Niederschlesien. Oder an der Küste. Und in der Puszcza Białowieska. Mäßiger Wind. Das Hoch erreichte Zentralpolen. Schneefall. Und so weiter. Niemand kann mir sagen, wie das Wetter in Wola Justowska wird. Morgen. Oder übermorgen. Außer mein dickbäuchiger Mann guckt irgendwo auf der Welt auf www.allewetter.de. Und schreibt mir eine email. Höchste Zeit für einen Spaziergang. Kein Wort aus dem Wörterbuch. Allewetter. Ein Fehler in der Vorsehung. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Gehorsam ging ich in den Wolskiwald. Zürnte dem gleichgültigen Himmel und der gefrorenen Erde, dass Martin der Ältere mich ärgert. Mit seiner bereits obsessiv gewordenen Feststellung, dass das, was ich tue, keinen Sinn macht. Dass das, was ich bin, keinen Sinn ergibt. Ich bin eine Schweizerin, die deutsch und polnisch schreibt. Ich harre des Tages, an dem im Łaskihaus kein einziger deutschsprachiger Stipendiat mehr übrigbleibt. Ich hasse die nächtlichen Diskussionen über meine oder nicht meine Sprache. Schweizer haben keine Sprache. Überhaupt keine. Die Armseligen. Der Dreizehenspecht kommt in Polen nur in den Karpaten und in der Puszcza Białowieska vor, er ist schwarz-weiß gefiedert und das Männchen hat einen gelben Oberkopf.

Und schon geriet ich auf die schiefe Bahn. Unter den Jungfrauenfelsen stand ein einsamer Mann, der durch ein Fernglas in den Himmel guckte, eingepackt, wie alle Waldspaziergänger zu dieser Jahreszeit in eine dicke wattiert Jacke, mit Mütze auf dem Kopf und Schal um den Hals. Wie soll man da jemanden erkennen? Eine schwarze Silhouette im weißen Wald. Und schon. Genug. Meine Gedanken gefangen von einer hitzigen Debatte. Meine Schuhe versunken im schweren Schnee. Ein unschuldiger anderer Martin, mein Tai Chi-Lehrer steht am Sonntag im Wolskiwald. Und ich erkenne ihn nicht. Er beobachtet Vögel. Und erkennt mich. So wie er das in Polen seltene Weißrückenspechtmännchen mit seinem leuchtend roten Oberkopf erkannt hätte. Er grüßt. Und ich, dumm, aufgeschreckt, weiß nicht mehr, ob ich diesen Menschen per Du oder per Verehrter Herr ansprechen soll. Und schweige betreten. Seit dem letzten Winter trage ich einen roten Schal und rote Schuhe und ein rotes Stirnband. Ich bin einfach zu erkennen. Er war für mich aus dem Kontext gerissen (chen taijichuan Kurs im ersten Stock des Kulturhauses „Wola”). Ich für ihn offenbar nicht. Das heißt, er erfasst die Welt als Ganzes. Und ich nur ihre einzelnen Fetzen. Der Olivgrünspecht hat auch einen roten Oberkopf und ist in Polen weit verbreitet.

Am Montag hat sich alles ergeben. Um halb acht entstand der richtige Ton meiner nicht meiner Sprache auf der Tastatur des Laptops. Während unserer Übungsstunde im ersten Stock des Kulturhauses spielt oft unten jemand Klavier. Mal besser, mal schlechter. Aber das spielt gar keine Rolle. Die richtige Tonart. Die adäquate Konsonantenvibration. Ende aller Qualen. Eine riesengroße, unerwartete montägliche Erleichterung. Jetzt weiß ich, wie ich schreiben kann. Über Konwicki. Auf Polnisch. Das nächste Buch, das keiner braucht. Ruhig ging ich in die Küche hinunter zum Frühstück. Gewappnet. Und selbstsicher. Für den morgendlichen Zusammenstoss bei Nescafé mit Martin dem Älteren. Alle andern schlafen noch.

Ab heute stehe ich um sechs Uhr auf und schreibe. Das ist meine beste Zeit. Das Radio von Frau Krakowska weckt mich. Kurz vor sieben kommt mein Lieblingsstück aus der Filmmusik zu „Chronik der Liebesunfälle“ von Wojciech Kilar. Na bitte. Überaus selten ist in Polen der Schwarzspecht. Aber alle Spechte stehen unter Vogelschutz.
 
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