krakau
25.1.06
  Wolkenlesen
Roma schickte mir den link auf ihre Lieblingswetterseite. „Dort kannst du die Temperatur ablesen, Niederschläge, Luftfeuchtigkeit, Windstärke und -richtung sowie die Wolken“, schrieb sie. Und noch ein paar tröstlichere Sätze, die ausschließlich für mich bestimmt waren.

Ich lese jetzt Wolken ab von http://weather.icm.edu.pl/ und empfehle die Seite hiermit weiter.
Ich lese die gefühlte Temperatur ab. Die Maximal-, die Minimal- und die Durchschnittstemperatur. Die gefühlte Temperatur liegt zu dieser Jahreszeit immer etwas tiefer als die Mindesttemperatur. Ich frage mich, wie diese Tabelle an einem schwülen Augusttag aussehen wird. Noch lebe ich der gefühlten Temperatur einer Januarnacht nach. Die Haut des Menschen ist empfänglicher für Wind. Als für Minustemperaturen auf dem Außenthermometer. Das am Küchenfenster klebt. Die Haut des Menschen ist Windempfindlich. Die Haut ist der geheimnisvollste Körperteil des Menschen. Windgeschwindigkeitsempfindlich. Windrichtungsempfindlich. Wolken hingegen berühren die Haut kaum. Außer sie regnen gerade ab. Heftig. Und unaufhörlich. Oder schütten Schnee auf unsere Häupter.

Endlich habe ich Wetter im Zimmer unter dem Dach. Und den wolkenlosen Himmel über mir. Eine unendlich gefrorene Gleichgültigkeit. Jetzt warte ich auf Wolken. Hohe Wolken. Tiefe Wolken. Mittelhohe Wolken. Vertikale Wolken. Hauptsache Hängewolken. Wanderwolken. Über das Firmament. Jagende Wolken. Fetzen. In alle vier Himmelsrichtungen. Zerstiebende. Dann wird es meinen Engelinnen und mir wohler werden. Ums Herz.

Ich weiß nicht, wie es kommt, dass ich seit einigen Tagen immer hungrig bin. Das fing an, als Wolfgang noch in Krakau war. Ja. Jetzt kommt es mir wieder in den Sinn. Sogar ganz genau. Wann der Hunger einsetzte. Und wo. Im Nationalmuseum. Am Samstag ungefähr um vier Uhr nachmittags. In der Galerie der polnischen Kunst des 20. Jahrhunderts. Im Vorraum der Ausstellung im zweiten Stock. Noch bevor die Nacht auf die Błoniawiesen herunterfiel. Vor einem der beiden Bildschirme, auf denen vier (auf beiden die gleichen) junge Künstler über die Frage der Innovation in der Kunst sinnierten. Früher einmal gab es noch so etwas wie Avantgarde. Heute macht man sich damit höchstens noch lächerlich. Etwa eintausendmal hörte ich Wortfetzen, ausgesprochen mit aller Ruhe der Welt, von einem der vier, der nichts anderes sagte, als: „nie, to już było” [nein, das war schon], „było, było” [war, war], „już było” [war schon], „na pewno było” [das war bestimmt schon], „było...” [war….]. So viele dieser „było” [war] tropften in mein Ohr ... – alles war schon. Man kann sich höchstens noch aus dem Küchenfenster stürzen. Aber das befindet sich leider im Untergeschoss, und ist zudem vergittert. Sie saßen an einem trüben Tag in einem Schrebergarten. Dicht nebeneinander gedrängt. Auf einer Holzbank. Dann im Vorfrühling auf einer großstädtischen Freiluftbühne. Auch auf einer Holzbank. Von üppigem Unkraut überwachsen. Und mich packte der Hunger. Ein Wolfshunger. Wie ein Wolkensturz. Ein heftiger Luftdruckabfall. Hektopascal. Zucker. Energie. Ein Loch. Im Magen. In den Adern. Im Herz. Ich kann mich kaum mehr auf den Füßen halten. Lass uns gehen. Zupfte ich meinen Allerliebsten am Ärmel. Lass uns weggehen. Schnell. Und zerrte ihn aus dem Nationalmuseum hinaus auf die Mickiewiczallee. Dort hingen noch Tageslichtreste. Und eine undurchdringliche Regenwand. Das war der Beginn des kürzesten Frühlings in diesem Jahr.

Am wichtigsten für den Magen sind also doch die Wolken. Roma hat Recht. Am wichtigsten für die Haut sind die Windströme. Und für die anderen Körperteile – mal sehen. Seit einigen Tagen bin ich immer hungrig. Die Zuteilung von Klopapier in diesem Haus ist streng limitiert. Allein die Schleierwolken am gefrorenen Himmel mögen wissen warum. Ich beklagte mich so nachhaltig, dass ich schließlich (gestern) eine ganze Packung erhielt. Sechs Rollen. Angereichert mit dem Duft einer Meeresbrise. Soll helfen bei Traurigkeit und Verstopfung.
 
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